Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
unversehrt. Die Stützmauern hatten den Wassern standgehalten.
2
A ls Elysa am Morgen erwachte, wusste sie zunächst nicht, wo sie sich befand. Erst als sie die Wollstoffe fühlte, die sie bedeckten, erinnerte sie sich an den vorangegangenen Abend, als sie beschlossen hatte, hier im Skriptorium zu nächtigen.
Ida hatte eine wahrlich beunruhigende Nachricht überbracht: Priorin Agnes und Radulf von Braunshorn waren über Elysas wahre Beweggründe informiert, wohl durch den Laienbruder Gregorius, der in der Nacht mit einer Botschaft der Mainzer Prälaten eingetroffen war. Elysa würde sich besser verbergen und auf Clemens von Hagens Rückkehr warten, wenngleich sie es vorgezogen hätte, den beiden Nonnen nach draußen zu folgen und sogleich mit der Suche nach der verborgenen Vision zu beginnen.
Es war der letzte Tag, der Tag, an dem der Kanonikus zurückkehren wollte. Der Gedanke an das Wiedersehen versetzte sie in erwartungsvollen Aufruhr. Doch würde man ihm nun, da man sein Spiel durchschaut hatte, den Zutritt verwehren?
Draußen war es noch dunkel. Den Klang der ersten Glocke zur Zeit der Vigilien hatte Elysa nur undeutlich wahrgenommen, es war ihr unmöglich gewesen, sich zu erheben.
Während sich Elysa nun ihre Augen rieb, wunderte sie sich, wie sie überhaupt hatte einschlafen können, nachdem so viel geschehen war. Die Entdeckung des Scivias , das wiedergefundene Fragment, die Entschlüsselung der Schrift.
Eine Vision lag in der Eibinger Klosterkirche nahe den Worten des Lichts. Und auch der Hochmut spielte eine Rolle, die den Menschen einst zum Verhängnis geworden war.
Diese Worte gingen Elysa durch den Kopf, als sie nun aufstand und aus dem milchigen Glas des bleigefassten Fensters zum dunklen Klosterhof sah, der ganz in Nebel getaucht war.
Hochmut. Ja, der Hochmut hatte einen stillen Platz in diesem Kloster und auch der Kampf, ihn in Demut zu wandeln. Ida war dereinst aus Hochmut geblendet worden. Agnes, so hatte Jutta in der Krankenstube erzählt, wurde der Hochmut ausgetrieben, als sie sich wie eine Äbtissin gebärdete und regen Kontakt zur Außenwelt pflegte, statt sich um die Belange des Klosters zu kümmern, um Zucht und Ordnung.
Elysa erinnerte sich an das Gespräch, das sie mit der Medica geführt hatte. Nach einer Reihe von Ermahnungen war Jutta auf Agnes zu sprechen gekommen, ehemals Rupertsberger Bibliothekarin, auf deren Wahl zur Priorin von Eibingen und auf deren Missmut, da sie ehrgeizig war und insgeheim die Äbtissinnenwürde vom Rupertsberg angestrebt hatte.
Der Hochmut hatte wahrlich einen stillen Platz, doch was wollte Hildegard mitteilen, als sie in der Schrift dazu aufforderte, sich dieses Lasters zu erinnern?
Die Glocke läutete, scharf und klar. War Gudrun, die Glöcknerin, noch rechtzeitig erwacht, bevor die Priorin in den Dormentbau zurückkehrte und sie für ihre Unaufmerksamkeit strafen konnte?
Elysa wandte sich vom Fenster ab und ging zur gegenüberliegenden, rußgeschwärzten Fensteröffnung, die zum Kreuzgarten hinausführte und durch die der nasskalte Nebel in die Schreibstube drang.
Sie schlug die Arme um den Körper. Die Nonnen, die im Dunst zum Südportal der Kirche strömten, waren nur schwer zu erkennen.Das Licht der kleinen, in regelmäßigen Abständen aufgestellten Laternen vermochte den Weg kaum zu erhellen. Unten ging Ida, den Stab trotz der Brandwunden sicher in der Hand.
Nun kam auch Agnes, hoch erhobenen Kopfes und mit suchendem Blick. Elysa wich zurück und zog sich ins Innere der Schreibstube zurück.
Noch einmal betrachtete Elysa das wundervolle Stück Pergament, das sie in der Nacht im Habit verborgen gehalten hatte. Welch seltsames Gefühl, es nun, nachdem sie es für immer verloren geglaubt hatte, in den Händen zu halten!
Es war die Zeit der Laudes, als Elysa zum Bücherschrank an der Stirnseite des Raumes ging und es in einem der Bücher verbarg, dessen Inhalt ihr für ein Kloster zu abwegig erschien, als dass man es zu liturgischen Zwecken würde hervorholen wollen: Honorius’ Streitschrift Summa gloria.
3
D er Kirchensaal lag im Dunkeln, nur der Chorraum wurde von Kerzen erhellt, ebenso wie die beiden Nebenaltäre des nördlichen Seitenschiffs.
Von ihrem Platz aus konnte Margarete die blinde Ida beobachten, die im Chorgestühl dem Altar ganz nahe saß, der Lesung des Seelsorgers lauschte und immer wieder den Kopf bewegte, als wolle sie die Töne einfangen, die den Saal erfüllten.
Margarete hingegen hatte sich entgegen der
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