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Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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folgen hatte, nicht im Sinne Gottes handelte?
    Margarete suchte nach Ida, die sich gerade anschickte, die Kirche auf dem Weg zur Versammlung im Kapitelsaal zu verlassen, und teilte ihr flüsternd diesen Gedanken mit.
    »Der erste Schritt zur Demut ist Gehorsam ohne Zögern. Doch stellt sich heraus, dass eine Priorin voller Fehler ist, sich stolz erhebt oder die Regeln missachtet, so ist es erlaubt, seinen Missmut zu verkünden«, murmelte Ida sorgenvoll. »Ja, man hätte das Bildnis der verehrten Meisterin an einen Ort bringen müssen, der ihrer würdig ist: in die Sakristei. Gleichwohl Radulf von Braunshorn diesen Raum als Schlafkammer entweiht. Gewiss würde ihm der Anblick der Meisterin Schmerzen bereiten, in der Mahnung an das verzehrende Feuer der Hölle.«
    »Wie kommst du darauf?«, fragte Margarete.
    »Der Exorzist ist des Teufels, ich sah es in der wahren Schau«, wisperte Ida düster.
    Margarete nickte nachdenklich. »Wo kann man den Worten des hell strahlenden Lichts näher sein als bei Hildegard selbst, Sprachrohr des Allmächtigen? Ich muss mir das Bildnis der Meisterin ansehen.«
    Über die Empore vor dem Westportal gelangte Margarete zu dem schmalen Eingang, von dem aus eine hölzerne Wendeltreppe in den Glockenturm hineinführte. Sie entzündete die Fackel vor dessen Eingang, entnahm sie dem Halter und sah bedrückt hinauf. Diese Treppe hatte Anna tags zuvor erklommen, um sich oben durch die offenen Schallarkaden zu stürzen.
    Die Bilder von Anna hatten sich tief in ihr Gedächtnis gegraben. Der Anblick der fallenden Oblatin, die geschlossenen Augen, der selige Blick. Welche Qualen musste sie ausgestanden haben, wenn sie lieber in die Hölle fuhr, statt zu büßen? Der Aufschreider fassungslosen Schwestern, das dumpfe Krachen des Körpers. Margarete kniff die Augen fest zusammen, als könne sie so die Bilder verscheuchen. Doch erst, als sie sich niederkniete und über das am Fuße der Treppe liegende Tafelbild der seligen Hildegard strich, das angelehnt an die Mauer stand, kehrte die Ruhe in ihre aufgewühlte Seele zurück.
    Andächtig betrachtete sie das Bildnis der Prophetin, deren klugen, warmherzigen Blick der Maler gut zu erfassen vermocht hatte, und verspürte einen Schmerz, der nun, neun Jahre nach Hildegards Tod, noch nicht vergessen war. Sollte sie sich als gute Braut Christi über den friedlichen Heimgang der Meisterin ins himmlische Reich freuen, so vermisste sie doch deren Ruhe, die Beharrlichkeit einer Erleuchteten, die auch in stürmischen Zeiten ein Felsen war.
    »Die Erde schreit nach der Rache Gottes, und der Himmel ist umwölkt von Ungerechtigkeit«, flüsterte sie, während sie fortwährend über das Tafelbild strich. »Hildegard, hilf.«

4
    V or ihr lag aufgeschlagen der Scivias, Tertia Visio Primae Partis .
    Elysa hatte die Lampe auf dem Pult neu entzündet und las von den Stürmen und ihrer Bedeutung, von den Worten Davids über des Menschen Erhabenheit und über den tiefen Fall desselben, wenn er der Schöpfung nicht gerecht wird und der satanischen Täuschung verfällt.
    Ihre übermüdeten Augen verfingen sich in den Buchstaben, die, teils unsauber geschrieben, all ihre Konzentration erforderten.
    »Denn zwischen der satanischen Bosheit und der göttlichen Güte wird der tiefe Fall des Menschen sichtbar. Durch boshafte Täuschung bewirkt er für die Verworfenen das Unglück der Verdammnis und durch das ersehnte Heil für die Erwählten das beseligende Glück der Erlösung.«
    Wieder schweiften Elysas Gedanken ab, verstreuten sich durch die Zeiten bis hin zu dem Moment, als sie vor dem frischen Grabhügel gesessen hatte, unter dem die Mutter lag. Geliebte Mutter, gedemütigt und geschlagen. Der Vater war bei der Beisetzung nicht zugegen gewesen und auch Magnus nicht, ihr erbarmungsloser Bruder. Nach der Austreibung durch den Exorzisten hatte die Mutter Essen und Trinken verweigert, war dahingegangen in schwindender Gestalt. Hätte Elysa nicht einen Priester geholt – man hätte ihr die Absolution verwehrt.
    Warum nur hatten sie der Mutter das Glück der Erlösung verweigert, warum waren sie ihr mit dieser Grausamkeit begegnet?
    Es war ein verstörender Gedanke. Hatte ihre Mutter gesündigt, etwas getan, was sie, Elysa, nicht erfahren sollte?
    Elysa erinnerte sich an eine Begebenheit, bei der ihre Mutter eine Truhe packen ließ und sich gemeinsam mit ihr aufmachte, die Familie in Mainz zu besuchen. Ein heftiger Streit war dem zuvorgegangen, und der Vater hatte seine Ehefrau vom

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