Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Entsetzen aus. Die Priorin lag im Mittelschiff am Boden, mit geschlossenen Augen und verdrehten Beinen. Blut quoll aus etlichen Wunden. Der Seelsorger war an ihrer Seite, von Tränen geschüttelt, hilflos betend.
Oben von der Empore aber schlug dichter, schwelender Qualm, aus dem gierige Flammen züngelten. Erst jetzt erkannten sie das Ausmaß der Katastrophe: Der Glockenturm stand in Flammen!
Margarete erstarrte in Furcht. War die Priorin tot? Hatte sie denjenigen überrascht, der nun zum zweiten Mal die Kirche niederbrennen wollte?
Das Läuten der Glocke erstarb. Als der letzte Ton verklungen war, entstand ein heilloses Durcheinander. Nonnen rannten panisch umher, schrien nach Wasser und stießen sich gegenseitig zu Boden.
Jutta war eine der Besonnenen, doch sie lief nicht, um Wasser zu holen, sondern kniete sich neben die Priorin, zerriss deren Habit und machte sich daran, die zahllosen Blutungen zu stoppen.
Inmitten der Konfusion stand Ida mit andächtig erhobenem Antlitz und zum Himmel gereckten Armen und begann Psalmen zu singen. Einige der Schwestern scharten sich um sie und stimmten mit ein, die Hände zum Gebet gefaltet.
»Wenn ich rufe zu Dir, Herr, mein Fels, so schweige doch nicht, dass ich nicht, wenn Du schweigst, gleich werde denen, die in die Grube fahren. Höre die Stimme meines Flehens, wenn ich zu Dir schreie, wenn ich meine Hände aufhebe zu Deinem heiligen Tempel.«
In wilder Erregung überlegte Margarete, was zu tun war. Sollten sie auf ein Wunder warten und währenddessen tatenloszusehen, wie die Kirche niederbrannte? Das Holz war feucht durch die anhaltenden Regenfälle, das Feuer hatte Mühe, sich emporzufressen. Noch konnten sie etwas tun, noch war nichts verloren!
Hastig tastete Margarete nach dem im Habit verborgenen Tafelbild und holte, mit neuer Zuversicht gestärkt, tief Luft. »Schwestern, bewahrt Ruhe. Wir brauchen Wasser. Rasch, holt Kübel aus Küche und Badehaus.« Dabei fuchtelte sie mit den Händen und versuchte, den aufgebrachten Nonnen Anweisungen zu geben.
Doch sie reagierten nicht, schrien angesichts der Bedrängnis, rannten durcheinander in kopfloser Hast. Nur ein paar der Konversen stürmten hinaus, wieder andere kamen mit Wasser gefüllten Gefäßen zurück und liefen die gemauerten Stufen zur Westempore hinauf, um das armselige Nass auf züngelnde Flammen zu schütten.
Margarete raffte ihren Habit und lief ins Freie. Von draußen konnte sie das Ausmaß der Katastrophe sehen. Rauch quoll aus dem baufälligen Turmdach, aus den Ritzen des Gemäuers und den Schallarkaden des Glockenstuhls.
Plötzlich entdeckte sie eine Person, die sich auf dem Sims des Figurenfrieses gegen die qualmende Mauer presste. Elysa! Wie Anna stand sie da, jedoch zitternd und voller Furcht. Nun ging sie in die Hocke, klammerte sich mit beiden Händen an die Hörner des steinernen Widders und verharrte, ohne den Blick von der Öffnung der Arkaden zu wenden, durch die der Qualm immer stärker wallte.
In panischem Entsetzen riss Margarete ihre Arme hoch und schrie mit sich überschlagender Stimme, schrie um das Leben jener widerständigen Frau, die sie so tief in ihr Herz geschlossen hatte. Schrie um das Vermächtnis der Prophetin und um den Bestand dieser Kirche. Sie schrie, als könne sie damit das Böse vertreiben,das sich des Konvents bemächtigt hatte und nach weiteren Opfern gierte.
Plötzlich brach der Regen los, stürzte aus den Schleusen des Himmels. Margarete reckte ihm ihr Gesicht entgegen. Ihr Schreien verwandelte sich in ein kehliges Lachen.
»Regen, noch nie warst du innigster ersehnt.«
10
D ie Tropfen fielen gleich Tränen, waren überraschend warm und erquickend. Rannen über ihr Gesicht, über Augen, Nase Mund. Wurden größer und vereinten sich in sintflutgleicher Kraft.
Noch immer klammerte sich Elysa an die Hörner des steinernen Opfertieres und wagte nicht, sich aufzurichten. Sie starrte auf die Öffnung der Schallarkaden und sah, dass der Qualm nachgelassen hatte. War das Feuer gelöscht?
Von unten hörte sie ein Rufen. Vorsichtig wandte sie den Blick. Vor ihr lag in schwindelerregender Tiefe der Kreuzhof, in den nun immer mehr Schwestern strömten.
Ein heftiger Schwindel ergriff sie und drohte, sie hinabzuziehen. Hastig sah sie wieder nach oben, während der Regen mit ungebrochener Stärke in ihren Nacken drang und den Habit durchnässte. Sie musste aufstehen. Gudrun, die Glöcknerin, konnte ihr die Hand nicht reichen, die Treppe war gewiss zerstört. Doch wie
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