Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
blätterte durch die Seiten, bis sie zur Schrift über die Steine gelangte.
»Jeder Stein hat Feuer und Feuchtigkeit in sich«, las Margarete laut. »Aber der Teufel scheut und hasst und verschmäht die Edelsteine, weil er sich erinnert, dass ihre Schönheit in ihnen erschien, bevor er von der ihm von Gott verliehenen Ehre hinabstürzte, und weil auch gewisse Edelsteine vom Feuer entstehen, in dem er seine Strafe hat.«
»Ich kenne eine Menge teuflischer Herren, die sich mit dererlei schmücken«, bemerkte Clemens trocken. »Die Steine können die Bösen dieser Welt nicht verschrecken.«
Margarete fuhr beharrlich fort, ohne seinen Einwand zu beachten. »Der Rubin aber verfinstert sich, wenn er auf göttlichen Befehl anzeigt, dass Hunger oder Seuche oder Veränderungen in den Reichen bevorstehen. Und an welcher Stelle auch immer der Rubin ist, dort können die Luftgeister ihre Trugbilder nicht vollenden, weil sie ihn fliehen und von ihm weichen.«
Sie schwiegen, in Gedanken versunken. Elysa ließ noch einmal die Bilder des Morgens an sich vorbeiziehen. Ihr Erschrecken, als sie im Eingang des Turmes auf Radulf traf. Sein Körper, der sich an sie presste und eine grauenvolle Mischung aus Furcht und Ekel in ihr auslöste. Der Disput mit Agnes, der im Sturz von der Empore endete. Dann Radulfs hämisches Lachen, als er den Reisighaufen entflammte, der auf dem Reliquienschrein lag.
»Was ist mit den Reliquien geschehen«, fragte Elysa unvermittelt. »Ob Agnes sie entwendet hatte?«
Margarete wiegte den Kopf. »Vielleicht, denn in der Tat hatte sie den Hildegardisaltar auszulöschen versucht, um dem Teufel zu gefallen.«
»Manche Dinge werden nie geklärt«, meinte Clemens. »Reliquien sind ein kostbares Gut. Jemand wird sie im Tumult des ersten Kirchenbrandes entwendet haben. Auch gibt es im Rheingau genügend Gläubige, die für einen Fingerknochen Hildegards ihre gesamte Habe verwenden würden.«
Es waren noch viele Fragen offen. So wussten sie nicht, was aus dem Exorzisten geworden war, der aus dem Kloster floh, in der Annahme, die Vision vernichtet zu haben. Und wer war noch Teil der Verschwörung, wer hatte dem Mönch aufgelauert, wer ihn gefoltert? Für Clemens von Hagen war es die Tat von Schergen, die für ein paar Silbermünzen ihre Seele verkauften. Weder die Prälaten noch der Exorzist selbst würden derartige Arbeiten verrichten, dafür gab es andere. So wie auch Radulf sich Agnes bedient hatte, um an sein Ziel zu kommen.
Sie würden sich dem fügen müssen, wohlwissend, dass alleine die Botschaft an die erzbischöfliche Kanzlei für ausreichend Unruhe sorgen würde. Clemens rechnete mit einer Reihe von Bezichtigungen und Abdankungen, aber die Korruption des Mainzer Klerus würde es nicht verhindern. In den unteren Reihen warteten etliche, die den hohen Posten im Domkapitel nicht mit christlicher Nächstenliebe verbanden.
Elysa seufzte. So wirr die Lage noch vor wenigen Tagen erschienen war, nun lag nahezu alles ausgebreitet vor ihnen. Für sie aber war der Weg, den sie vordem beschritten hatte, nicht zu Ende. Noch galt es, ihre Zukunft zu klären. In ihr erwuchs eine tiefe Unruhe, der Wunsch, sich ihrem Bruder und zugleich den Schatten der Vergangenheit zu stellen. Dann erst würde sie entscheiden können, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Sie betrachtete Margarete, die still in der Schrift las. Margarete hatte ihr des Nachts im Skriptorium bedeutet, sie sei eine gute Nonne. Nichts hatte Elysa ferner gelegen, doch in diesem Moment erschien es ihr als Ausblick. Die Benediktinerinnen gaben den Halt einer verlorenen Familie, den sie bei Magnus nie würde finden können. Margarete, Ida und auch Jutta, die sie zu Unrecht verdächtigt hatte. Hier könnte sie ungehindert ihren Studien nachgehen und dank der Mitgift aus den Truhen und mit den Folianten ihres Onkels eine stattliche Bibliothek aufbauen. Hier könnte sie sich der jungfräulichen Keuschheit verpflichten und all jenen Männern entkommen, mit denen ihr Bruder sie gewiss vermählen wollte.
Ihr Blick streifte Clemens von Hagen, der mit geschlossenen Augen dasaß, den Kopf an die Mauer des Kreuzganges gelehnt. Sie betrachtete sein Profil, die gebogene Nase, das markante Kinn. Clemens von Hagen, Mann Gottes, zur Enthaltsamkeit verpflichtet.
Sehnsucht stieg in ihr auf, das Verlangen nach der Nähe jenesMannes, der ihr nie würde nahe sein dürfen. Und als sie die Gefühle zuließ, die sie all die Tage verdrängt hatte, wurde ihr bewusst, dass es für
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