Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
erstarb. Ihre Augen flackerten. Der Priester begann, Psalmen zu intonieren, doch Agnes winkte ab. »Noch nicht«, flüsterte sie. »Zunächst muss ich euch von dem Ort berichten, an dem das Fragment verborgen liegt. Ihr müsst die Botschaft finden. Denn der Ruf aufgebrachter Jungfrauen wird weit weniger wiegen als das machtvolle Wort einer Prophetin, der selbst Könige und Päpste folgten.«
»Das Fragment ist bereits gefunden«, antwortete Elysa. »Es ist gefunden und entschlüsselt.«
»Was wisst Ihr davon?« Clemens von Hagen sah Elysa überrascht an.
Elysa enthielt sich einer allzu stolzen Antwort, die ihr in dieser Umgebung nicht angemessen erschien. Später wollte sie ihm alles schildern und sich der Süße des Triumphes ergeben. Nun aber berichtete sie mit knappen Worten.
»Wir fanden das Fragment im Buchrücken des in der Archivtruhe verschlossenen Scivias. Margarete bemerkte den neuen Lederbezug, hinter dem es sich verbarg. Mit Idas Wissen war es uns möglich, die Worte zu entschlüsseln. Dort fanden wir den Hinweis auf die Kirche und schließlich auch auf den Turm. Als ich nach meiner Flucht vor den Flammen auf der Brüstung der Schallarkaden saß, fiel das Licht der Sonne durch die Ritzen und beleuchtete die Inschrift der Glocke. Die Worte entstammten der vollständigen Lingua Ignota , die nur Eingeweihte kennen.«
»So ist auch Ida eine der Erwählten …« Schweiß perlte vonAgnes’ Stirn. Sie hatte Mühe, das Flackern der Augen zu bändigen. »Wie lautet die Botschaft?«
»Ehrwürdige Agnes«, sagte Ida versöhnlich, »Ihr habt schwer gesündigt, doch wer in reuevoller Zerknirschung zum Herrn zurückfindet, dem wird auch ein Platz in seinem Himmelreich zuteil. Ihr habt die wahre Schönheit einer geläuterten Seele offenbart, als Ihr Euch Radulf entgegenstellt habt, denn sein Plan war weit größer, als Ihr zu ahnen vermochtet. Radulf von Braunshorn verlangte nicht nach einem neuen Zentrum der Christenheit in Mainz. Er verlangte nach dem höchsten Posten auf Erden, nach dem Posten des Stellvertreter Christi.«
»Er wollte Papst werden?« Ein leises Stöhnen entfuhr der Priorin. Auch Clemens konnte einen überraschten Ausruf nicht unterdrücken.
»Ich kann die Worte nur bruchstückhaft wiedergeben«, fuhr Ida fort, »denn die Zeit der Unterweisung ist fern. Doch höret folgende Botschaft, die die selige Prophetin in die Glocke prägen ließ: ›Der Teufel verwaltet den Papst des Kaisers. Ein Priester wird kommen, den wahren Papst in aller Heimlichkeit zu stürzen. Also fürchtet, wenn die Heerfahrt des Kreuzes einen neuen Papst gebiert, einen Wolf im Gewand des Hirten, der dem Kaiser die Herrschaft über die Christenheit bringt.‹« Sie zögerte. »Und noch etwas stand geschrieben, doch ich bin nicht sicher, was damit gemeint ist: ›Doch Schwester, hüte dich vor dem, der des Nachts im Feuer der Sonne leuchtet.‹«
13
P riorin Agnes von Eibingen starb unter den Tränen der Schwestern, die sie umgaben, doch ohne den tröstenden Klang der Glocke. Am Abend des nächsten Tages wollten sie der Priorin mit einem Totenmahl gedenken, um dann den Beginn der Fastenzeit einzuläuten.
Aus dem Dorf waren neue Handwerker geeilt, die sich nun daran machten, den Turm vor dem Zusammenstürzen zu bewahren. Ebenso wie die Mauer der Empore, die nur noch ein Knochenwerk aus kalten Steinen war. Die Luft wurde erfüllt vom Hämmern und Klopfen.
Manche der Schwestern waren zu verstört, das Geschehene zu erfassen. Gelähmt von den Schrecken, verharrten sie im Kreuzgang, saßen eng beieinander auf den steinernen Bänken und starrten auf den rußgeschwärzten Turm. Gewiss waren auch welche darunter, die einen Abschied erwogen, der Regel nach undenkbar, doch wer würde es ihnen verwehren wollen?
Andere wiederum taten sich zusammen, um eifrig zu debattieren, erkennend, dass das Böse nun ein Ende haben musste. Denn auch die aufgebrachten Elemente, angetan, die Menschheit in Feuer, Sturm und Wasser zu verschlingen, schienen beruhigt und hatten seither geschwiegen.
Sibille aber, die junge Novizin, zog sich inmitten der lärmenden Unruhe in die rauchgeschwängerte Kirche zum stillen Gebetzurück, und hätte jemand ihren Worten gelauscht, so hätte er erkannt, dass sie das Rex noster promptus flüsterte, das Hildegard von Bingen einst als Lied erdachte:
Unser König hält sich bereit,
aufzunehmen der unschuldigen Kinder Blut.
Die Wolken aber, sie klagen ihr Wehe
Ob des unschuldig vergossenen Blutes.
Den Vormittag
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