Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
die nur unsere Familie betreffen. Schick den Kanonikus fort für die Nacht, so verspreche ich dir, dich aufzuklären.«
Worte der Schlange! Ihr Innerstes sträubte sich gegen diesen Mann, ihren Bruder, groß und breitschultrig, breiter noch als der Kanonikus. Doch es dürstete sie danach, die Vergangenheit zu besprechen, jene Lücken der Erinnerung zu füllen, die sie bis zum heutigen Tage verfolgten.
Langsam senkte sich die Dunkelheit herab. Die Mägde begannen, die wenigen Fackeln des Burghofes zu entzünden, als eine rundliche Frau in schmutzigem Kleid die Burg nach einem kräftigen Klopfen durch das Mannloch im rechten Torflügel betrat und einen mit Essen gefüllten Korb ins Herrenhaus trug.
Elysa erkannte Speck und Wurst, Käse und Milch. Sie erinnerte sich an das Totenmahl, das die Nonnen zu dieser Stunde bereits verzehrt haben mussten. Hatten sie Agnes verzeihen können, so wie Gott den Sündern verzieh, wenn sie sich voller Reue zu ihm bekannten? Hatten sie zuvor eine Messe gefeiert, um für das Seelenheil der Priorin zu beten?
»Geht nur, Clemens«, sagte sie entschlossen. »Ich will mein Verlangen stillen, die Vergangenheit zu begreifen. Es wird nicht notwendig sein, mich vor meinem Bruder zu schützen, denn er ließ mich rufen, weil er meine Anwesenheit braucht.«
Clemens nickte zögernd, nahm sie aber beiseite und zog einen kleinen Dolch aus seinem Gewand.
»Hier, nehmt«, flüsterte er. »Euer Bruder spricht von Wiedersehensfreude, doch ich traue ihm nicht.«
Rasch sah Elysa sich nach Magnus um, doch der sprach barsch mit der Bäuerin, die offenbar weniger gebracht hatte als erwartet, also steckte sie den Dolch ein.
Clemens entbot ihnen einen knappen Gruß, dann folgte er der Bäuerin durch das Mannloch.
In dem Moment, als sich die Einstiegstür des Burgtores schloss, überkam Elysa eine nie empfundene Furcht. Sie straffte den Rücken und atmete tief durch. Eine Ratte huschte über den Hof, Magnus trat wütend nach dem Tier, verfehlte es aber.
Sie betraten das Wohnhaus. Der untere Steinbau war feucht und roch modrig.
Magnus legte den Umhang ab und entzündete die Öllampen. Elysa fand sich im unteren Geschoss wieder, in dem auch die Kemenate lag, der einzige Raum mit Kaminfeuer, in dem sie zuletzt allein mit ihrer Mutter gelebt hatte.
Eine breite und ehedem herrschaftliche Treppe führte in das erste Stockwerk, in die Wohnhalle. Am Fuße jener Treppe aber befand sich ein großes geschnürtes Bündel.
»Du willst fort?«, fragte Elysa ihren Bruder.
»Ich plane, das Fest der Weihnacht am Hof in Eger zu verbringen.«
»In der Pfalz des Kaisers?« War Magnus zu einem der vielen Reisenden geworden, die dem Tross des Kaisers durch das Land folgten, um am herrschaftlichen Glanze teilzuhaben? War er der haltlosen Vergnügungssucht des Hofes zugetan, verprasste er den Familienbesitz mit Huren und Gauklern? Ein eigentümlicher Gedanke stieg in ihr auf. »Hattest du meine Ankunft nicht mehr erwartet?«
Magnus überhörte ihre Frage, nahm eine der Öllampen und ging zur Treppe. »Gleich neben der Kemenate findest du eineKammer mit einem Nachtlager. Dort steht eine Truhe mit Kleidern, derer du dich bedienen kannst. Kleide dich deinem Stande angemessen und komm nach oben, damit wir uns an den Speisen gütlich tun und über das Vergangene reden können.«
Das Licht der Öllampe beleuchtete seine große Gestalt. Ein fein gearbeiteter Gürtel fiel Elysa ins Auge, mit ungewöhnlicher Schnalle, die das Licht hundertfach zurückwarf. Noch während Magnus sich der Treppe zuwandte, erkannte sie darin ein glutrotes Funkeln, das von Steinen auszugehen schien. Elysa erstarrte. Ihre Gedanken begannen zu rasen. Sie musste sich irren.
»Magnus?«
Er wandte sich zu ihr um. Das Licht war schwach, doch sie erkannte, dass es vier Rubine waren, welche die goldene Schnalle in einem angedeuteten Kreis zierten. Sie waren geformt wie jener, den der Mönch in seinem Beutel bei sich getragen hatte. Doch noch etwas erblickte sie, das ihr wahrhaft die Kehle zuschnürte: An der Stelle, die den Kreis vollenden mochte, war das Metall blank. Einer der Steine fehlte.
16
D ie Nacht war schwarz, denn obwohl die Luft klar war und ohne Wolken, hatte sich ein Schatten über den Mond gelegt.
Clemens von Hagen tat seine Schritte in Gedanken versunken, folgte der Bäuerin im Licht der Lampe zu ihrem Haus.
Etwas hatte ihn stutzig gemacht, doch so sehr er darüber nachdachte – er konnte es nicht weiter ergründen. Es war etwas in der
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