Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
die sich zum Osten hin öffnete. Klein und kaum wahrnehmbar in die Mauern eingelassen, verdeckt von der Statue, die Margarete soeben verrückt hatte.
»Eine Krypta?«
Margarete legte den Finger auf den Mund und schob den Riegel zur Seite. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. Vor ihnen lagen in Stein gemauerte Stufen, die in tiefe Schwärze führten.
Margarete nahm eine Fackel aus dem Halter seitlich der Treppe und entzündete sie am verbliebenen zuckenden Licht. Dann schritt sie voran, die Stufen hinab.
Elysa zählte fünf Stufen und nach einer Windung weitere fünf, hinab in eine Kammer, die direkt unter dem Nonnenchor liegen musste. Das Licht der Fackel erhellte einen niedrigen, fensterlosen Raum, dessen Säulen sechs quadratische Kreuzgratgewölbe trugen.
Es roch modrig und feucht, und doch musste es eine Art Belüftung geben, denn Elysa spürte ganz deutlich einen feinen Luftzug auf ihren Wangen.
»Eine Krypta«, wiederholte sie. Früher Ort der Märtyrergräber und Stätte der Reliquienverehrung, nun oftmals Raum des stillen Rückzugs und Hüter des Klosterschatzes.
Elysa war noch nie in einer Krypta gewesen, und nun, da sie sich in einer befand, empfand sie eine Mischung aus Ehrfurcht und Beklemmung. Sie sah sich um, während das Gefühl der Beklemmung Oberhand gewann. Der Raum war aus unverputztem Bruchsteinmauerwerk, gleich einer kargen, unterirdischen Grablege. Er war leer, bis auf zwei Tafelbilder, die umgedreht an der nach Süden weisenden Wand lehnten, und einen kleinen Reliquienschrein aus Tannenholz. Keine Werke der Goldschmiedekunst,keine kostbaren Edelsteine und Gemmen, die den Betrachter von den irdischen Sorgen ablenken konnten, kein prächtiges Antependium. Es gab weder Fresken noch Ornamente, nur in der Westwand der Krypta befand sich eine stuhlartige Nische. Nichts, alles schmucklos, ebenso schmucklos wie die Kirche selbst.
Elysa betrachtete den hölzernen Kasten. »Ist das der Schrein für die Reliquien der Meisterin?«
Margarete nickte. »Er enthielt Fingerknochen und Partikel der Zunge. Außerdem einen Strang des Haupthaares Hildegards.«
»Erstaunlich«, murmelte Elysa. »Gewiss, die Reliquien sind ein kostbares Gut, doch wem sollte es gefallen, diese Dinge in aller Heimlichkeit zu besitzen? Doch nicht einer Nonne, die dem Eigenbesitz abschwören musste und diese Schätze nirgends zu verbergen vermochte?«
Elysa kniete nieder und strich sanft über das wohl durch einen Sturz verzogene Holz, ohne es zu berühren. Ihre Finger pulsierten. Hier in diesem Schrein hatten noch vor kurzem sterbliche Reste der seligen Hildegard gelegen. In ihnen lebten die Kräfte weiter, die der verehrten Prophetin innewohnten. Denn selbst wenn Hildegard noch nicht heiliggesprochen worden war, so gab es kaum jemanden, der an ihrer Heiligkeit zweifelte. Dieser schmucklose, in die modrige Krypta verbannte Schrein übte eine Anziehung aus, die sie augenblicklich ergriff. Eigentümlich bewegt, drehte sie sich zu Margarete um. »Erzähl mir von ihr.«
Margarete steckte die Fackel in einen der Halter des Gewölbes. Die Hand war nun sicher, das Zittern verschwunden.
»Hildegard von Bingen war entgegen ihren bescheidenen Beteuerungen eine starke, gebildete Frau.« Die Nonne hockte sich neben Elysa vor den Reliquienschrein und legte ihre Hand auf das Holz, das sie nun voller Zuneigung betrachtete. »Bereits als Kind hatte sie Visionen, konnte die Farbe eines ungeborenen Kalbes voraussagen. Im Alter von zweiundvierzig Jahren aber wurde sievom gleißenden göttlichen Licht heimgesucht und bekam den Auftrag, all die Botschaften niederzuschreiben, die sie fortan erhielt.«
Elysa nickte – das war ihr bekannt. Im Rheingau kursierten allerhand Erzählungen von Hildegards mächtigem Auftrag. Handschriftliche Kopien ihrer Abhandlungen über den göttlichen Kosmos und die Botschaft Gottes wurden allerorts gelesen.
»Viele Menschen suchten ihren Rat«, fuhr Margarete fort. »Einfache Gläubige wie auch Kirchenfürsten, denn in ihrer liebevollen Weisheit wusste die Meisterin immer den rechten Weg. Doch trotz Heiligkeit konnte sie auch halsstarrig sein. Sie hat immer für das Gute gekämpft und für das Christenrecht, mit regsamem Geist und geschliffener Rede. Und dabei hat sie sich nicht gescheut, kirchliche und weltliche Würdenträger in ihre Schranken zu weisen.« Sie lächelte, und aus ihren Augen begann ein inneres Feuer zu leuchten. »Selbst Kaiser Barbarossa, der ihr dereinst einen Schutzbrief für das
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