Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
Dormitorium innehielt.
So kam es, dass sie nicht hörte, wie nur kurze Zeit, nachdem das Stöhnen verklungen war, sich ein neues erhob. Dieses Mal aber nicht vermischt mit freudigem Juchzen, sondern durchzogen von leisem, erbarmungswürdigem Winseln nach Gnade.
17
D er Nebel war dicht und in der Dunkelheit des Abends nahezu undurchdringlich. Nur schemenhaft konnte Clemens die Umrisse des Mainzer Doms sehen, dessen kreuzgratgewölbte, dreischiffige Pfeilerbasilika mit Westquerschiff und Chören im Osten und Westen dem Bau des St. Peter gleichkam und den Gläubigen in seiner Pracht und Größe ein Sinnbild der Herrlichkeit des Imperiums vor Augen führen sollte.
Clemens bog gen Westen, bis er die Ställe des St.-Stephan-Stifts erreichte, überließ sein Pferd der Obhut der Stallburschen und ging humpelnd den ansteigenden Hügel hinauf, an den Häusern der Muntat vorbei, in der sich neuerdings immer mehr Kanoniker des Tags zurückzogen und die langsame Auflösung der vita communis vorantrieben.
Es war bereits nach Mitternacht, als Clemens das Stift betrat. Er gelangte ungesehen in den Küchentrakt, schürte das Feuer im Ofen, und während er Wein im Kessel erwärmte, schlang er den Rest eines Bratens hinunter, den er in der Speisekammer vorgefunden hatte. Bald war der Wein erhitzt. Dürstend tauchte er einen tönernen Becher in den Trank, stürzte ihn hinunter und fühlte, wie er ihn erwärmte. Noch einmal setzte er den Becher an, doch er rutschte ihm aus der Hand, zerbrach mit lautem Krachen und hinterließ eine dunkelrote Lache auf dem steinernen Boden.
Clemens sog die Luft ein und lauschte, und als er sich sicher war, dass ihn niemand gehört hatte, nahm er eine Ecke des flandrischen Stoffes und wischte den Wein damit auf.
Das Leben im Stift war voller Annehmlichkeiten, es gab ausreichend zu essen und zu trinken. Käse, Braten, Pasteten, Dörrobst, Wein und Bier, alles war im Überfluss vorhanden. Wie gerne hätte er die Sorge der letzten Tage hinter sich gelassen und sich der Schlemmerei hingegeben. Wer aber bei Kräften bleiben wollte, der hüte sich vor der Unmäßigkeit in Essen und Trinken. Wie sollte er mit schmerzendem Magen und leidendem Kopf die Reise am frühen Morgen fortsetzen?
Was Clemens noch dringender ersehnte als den flüchtigen Genuss der Völlerei, war Schlaf. Die Anstrengungen der letzten Tage hatten an seinen Kräften gezehrt, er hätte sich augenblicklich auf den nackten Stein legen und den Verlockungen des Morpheus hingeben mögen. Zunächst aber galt es, sein Bein zu versorgen und die rasenden Schmerzen zu stillen.
Der Stoff klebte fest an der Wunde. Mit einem Ruck riss er das Beinkleid herunter. Augenblicklich öffnete sich die Schrunde und ergoss einen Schwall von Blut und Eiter auf den Steinboden. Sogleich riss er ein Stück seines Leinenhemdes ab und wusch die Wunde mit dem abgekochten Wein.
Mit einem Male schwang die Tür auf. Clemens sprang auf und hielt die Luft an. Dann atmete er erleichtert aus. In der Tür stand Gottfried von Werlau, einer der wenigen Kanoniker des Stifts, denen er vorbehaltlos vertraute. Gottfried zitterte vor Kälte in einem langen Leinenhemd, seine Füße steckten nackt in Filzschuhen.
»Clemens, du? Was geht hier vor?« Entsetzt betrachtete Gottfried ihn – das zerschlissene Hemd, das schmutzige und aufgerissene Beinkleid. Sein Blick wanderte zum Lammfell, das der Händler Clemens als Schutz gegen die Kälte aufgedrängt hatte und nunachtlos auf dem Boden lag, und blieb an der geschwürigen Wunde hängen. »Was ist geschehen?«
»Davon berichte ich später. Ich bin nur für eine kurze Nachtruhe im Stift. Morgen bei Tagesanbruch werde ich meine Reise fortsetzen.«
Clemens tränkte das Tuch wieder mit Wein, dann presste er es fest auf das eiternde Bein.
»Falls der Propst dich wieder gehen lässt«, bemerkte Gottfried.
»Warum sollte er nicht?«
»Du hättest besser daran getan, ihm den Grund deiner Reise mitzuteilen.«
»Das habe ich gemacht.« Der Wein brannte durchs Fleisch bis auf die Knochen.
»Du hast ihm von einem Botengang für den Erzbischof berichtet.«
»Und ich erwähnte, dass auch die Bitte an mich herangetragen worden war, eine alleinreisende Adelige zur Familienburg zu begleiten.«
Gottfried nickte. »Soweit kann ich dir folgen. Warum du aber die Adelige als Handwerkstochter ausgegeben und im Kloster Eibingen als Anwärterin vorgestellt hast, will ich nicht verstehen. Der Propst war rasend vor Zorn!«
Clemens fuhr zusammen.
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