Perlensamt
die Gegend.«
Ich wußte überhaupt nicht »um die Gegend«. Mir hatten die hellen Häuser gefallen, die Stille von Passy, die erhöhte Lage, von der man über die Stadt blicken konnte. Nicht ganz so hoch wie Montmartre, dafür fast unbehelligt von Fremden. Ich ging immer noch gern dort spazieren. Wissen mußte ich deswegen nichts über die Gegend. Auf meiner zweiten Reise nach Europa, als Student, hatte ich das weiße Viertel entdeckt. Ich hatte mich, wie es meine Angewohnheit ist, von der Gruppe separiert. Während die anderen in Filzpantoffeln über die Parkettböden von Versailles schlurften, durchstreifte ich das Quartier des Invalides und ging von dort hinauf zum Trocadéro. Ich lief quer durch die Stadt, mied die Grands Boulevards und entdeckte den Parc Monceau und seine Umgebung. Das Blau des Himmels im Kontrast zum dichten Blattgrün vor den eleganten Sandsteingebäuden, verbrämt von schwarzen, auf Hochglanz lackierten Gittern …
Während ich durch diese Viertel ging, deren Geruch mich an die ersten warmen Tage eines Jahres denken ließ, fragte ich mich, ob Rosie das elegante Passy wohl gefallen hätte. Hätte sie sich auch so inspiriert gefühlt wie ich? Ich wäre gern unbekannt und heimlich in eines der hellen Häuser entschlüpft, hätte mir einen französischen Namen zugelegt und wäre einer der Bewohner des 16. Arrondissements geworden. An diesem Tag hatte ich mich auf meinen zukünftigen Beruf gefreut, auf den Umgang mit schönen Dingen in schöner Umgebung. Im Musée Nissim de Camondo kam mir plötzlich in den Sinn, meine Magisterarbeit über die französischen Privatsammlungen des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Ästhetik, Aura und Stil in diesem Palais hatten mich fast überwältigt. Schließlich aber gewann eine andere Leidenschaft Oberhand, und ich schrieb über Juwelen auf Porträts der Renaissance.
»Ich weiß nicht viel davon. Ich weiß von der Rue Debordes Valmore Nr. 30. Dort hat es eine große private Kunstsammlung gegeben – vor dem Krieg.«
»Dem Zweiten?«
»Bitte? Ach so, ja sicher, vor dem Zweiten Weltkrieg natürlich.«
»Es ist nicht zwingend, daß man sich als Sammler für andere Sammlungen interessiert. Es sei denn, man sucht ein bestimmtes Objekt. Aber man läßt lieber suchen. Im übrigen ist Konkurrenzdenken unserer Familie fremd.«
Vielleicht regt ein Ort, an dem ein Mord geschehen ist, immer zu Spekulationen an. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß alles, was Perlensamt umgab, eine Bedeutung bekam. Nicht nur der Raum. Auch Perlensamts Gesten. Jede Einzelheit ›sprach‹, zum Beispiel die, den Champagner in solchen Gläsern zu servieren, Le vase etrusque aus den vierziger Jahren, eine echte Kuriosität. Der Großvater mußte ein manischer Sammler gewesen sein. Perlensamt hatte weitergesprochen, während ich mich in Überlegungen verlor. Ich horchte auf inmitten eines Satzes, dessen Anfang irgendwo im Dunkeln lag.
»… hängen sehen, ist die Folge einer Tradition, die mein Großvater begründet hat. Ich kenne mich nicht einmal besonders gut aus in dieser Zeit. Sie werden mir da weit voraus sein.« David seufzte und sah sich um. »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich auch über die Zeit meines Großvaters in Frankreich nicht viel Intimes weiß. Er war verschwiegen. Mein Vater selbst ist immer noch voller Scham. Er ist ein sanftmütiger Mann. Es gelingt ihm, ruhig und vernünftig über allgemein herrschende Verhältnisse der Vergangenheit zu reden. Aber an den Entzündungsherd in unserer eigenen Familie wagt er sich nicht heran. Ich vermute, daß die Karriere meines Großvaters unrühmlich war. Wie sollte das anders gewesen sein in dieser Zeit – als Deutscher im Ausland.«
Was Perlensamt nach und nach und immer nur in kleinen Dosen von sich gab, war dann etwas ganz anderes, als ich erwartet hatte. Bezüge überall, voll von Schatten, über denen wieder Schatten lagen. Ich fühlte mich an die einzigen deutschen Bücher erinnert, die ich als Kind besessen hatte: Märchen. Rosie hatte nie viel erzählt. Ein paar böse Sätze waren über Deutschland gefallen, vereinzelt. Mich hatte ihr Schweigen nie gestört. Mein erster Aufenthalt in dem Land war beredt genug gewesen.
»… und außerdem spricht der Namenswechsel meines Vaters dafür, daß es da eine Last gab, zu der er sich öffentlich nicht bekennen wollte.«
»Er wechselte den Namen?«
»Nicht gerade mutig, nicht wahr? Aber man gestattete ihm das. Nach Kriegsende hat sein Vater Glück gehabt. Irgend
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