Perlensamt
einmal, wohin sie eigentlich wollte. Lächerlich! Davids Eltern – Miriam und Maurice, meine ich.«
»Maurice?«
»Alfred – meinetwegen.«
»David sagte mir, daß sein Vater einen anderen Namen angenommen hat. Es sei ein Versuch gewesen, sich dem schweren Erbe zu entziehen, für das der ursprüngliche Name stand. Vielleicht sieht er die traurigen Ereignisse auch in diesem Zusammenhang.«
»Was für ein schweres Erbe?« Sie runzelte die Stirn. »David ist begabt. Aber er lebt in einer Phantasiewelt. Das ist gefährlich. Ich habe das alles immer bedauert, die Attitüde seiner Eltern, dieses Gieren nach Prestige. Aber – ich hatte kein Recht, einzugreifen. Ich hatte gehofft, David würde selbst einen Ausweg finden … aus seiner Versponnenheit, aus diesem Land, aus dem Zwang seiner Familie. Ich hätte mir gewünscht, sein Bezug zu Paris wäre größer, lebendiger, überhaupt, daß er mehr – wie soll ich mich ausdrücken – internationales Interesse entwickelt hätte.«
»Wie sein Großvater?«
»Wie kommen Sie denn darauf? Unser Vater war ein unbedeutender Mann. David hat leider die Haltung meines Bruders geerbt. Er igelt sich ein. Er ist – es fällt mir nicht leicht, das zu sagen – bei aller Großspurigkeit provinziell. Auch Alfred und Miriam sind, ich meine Miriam war provinziell. Reich gewordene Kleinbürger, die ihre Herkunft verbergen wollen. David hat diese dumme Angst übernommen, wie er vieles von ihnen übernahm, und ich hatte leider keinerlei Einfluß auf ihn. Er wollte ihnen so gerne ähnlich sein, genauso sein, wie sie. Er wollte, daß sie ihn lieben, und wie um es ihnen vorzumachen, liebte er sie. Und dann wieder diese Ausbrüche von Wut, gar nicht zu zügeln. Miriam konnte nicht damit umgehen. Sie behandelte das Kind, als hätte es die Pest. Ach, verzeihen Sie, was ich nur rede.«
Sie hielt inne und starrte auf ihre Hände. An dem linken kleinen Finger trug sie einen goldgefaßten Turmalinring. Einen Ehering trug sie nicht.
»Da Sie auch nicht wissen, wo er ist …« Sie schien sich nicht länger über meine Anwesenheit zu freuen. »David braucht einen Freund«, murmelte sie abwesend, als müsse sie noch eine Besorgung machen. Sie stand auf, sah mir in die Augen und schien alle Kraft zusammenzunehmen. »Er braucht einen Freund wie Sie. Ich dachte mir das sofort. Aber man kann die Dinge nicht erzwingen.«
»Erlauben Sie mir noch eine Frage.«
»Ja, bitte?«
»David sagte, der Courbet«, ich wies noch einmal auf das Bild vom Meer, »sei der Anfang gewesen. Was meint er damit? Der Anfang von was?«
»Tut mir leid, keine Ahnung. Ich habe dieses Bild nie zuvor hier gesehen. Es gibt ein solches Motiv von Courbet im Musée d’Orsay. Es hängt unten in dem Saal, wo auch die anderen Bilder dieses wunderbaren Malers hängen. Aber dieses hier – nein, ich kann rein gar nichts dazu sagen.« Sie seufzte. »Auch zu den anderen Bilder nicht. Sie machen mich sprachlos.«
Was für eine undurchsichtige Familie, dachte ich, als ich wieder auf der Straße stand. Sie wirken zusammengewürfelt und dann zerstoben. David verschwunden? Wieso hatte er mir nicht gesagt, daß er verreisen wollte? Warum war seine Tante plötzlich da? Edwige Abèz schien ihre tote Schwägerin nicht gemocht zu haben. Ich kam wohl gerade recht, damit sie diese Tirade loslassen konnte. Es schien ihr ein echtes Bedürfnis gewesen zu sein. Diese familiären Animositäten machten mich irgendwie nervös. Eigentlich war es gar nicht meine Art, mich in fremde Angelegenheiten hineinziehen zu lassen. Aber die Freundschaft mit David einfach abbrechen? Und das gerade jetzt, wo sein Vater verurteilt worden war? Reflexartig wühlte ich in meinem Jackett nach einem Päckchen Zigaretten. Dann fiel mir ein, daß ich das Rauchen aufgegeben hatte. Es war zu früh, um irgendwo etwas Alkoholisches zu trinken. Ich sah mein Fahrrad am Laternenpfosten stehen, gründlich abgeschlossen. Gehörte es wirklich mir? Am Haus nebenan war ein Bauzaun angebracht. Bunte Plakate klebten halb abgerissen an den Latten. Die Luft roch schwül, als wäre sie mit irgend etwas aufgeladen. Wann würde die Hitze endlich aufhören? Ich wollte auf die Uhr sehen und stellte fest, daß ich sie zu Hause vergessen hatte. Der Verkehr auf der nahegelegenen Kantstraße wurde dichter. Ich hatte einen Verdacht überprüfen wollen. Einen Verdacht? Was für einen Verdacht? David Perlensamt sei eigentümlich unbeteiligt gewesen, als der Sarg seiner Mutter … Wieso fiel mir diese
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