Perlensamt
sie war von David eingenommen. Er hatte etwas in ihr angesprochen, zu dem ich keinen Zugang hatte. Ich mußte sie hier wegbringen, bevor etwas geschah. Irgendwie. Und wenn ich sie tragen müßte.
»Warum sind Sie denn nie ausgezogen?«
»Ich wohne seit langem nicht mehr ständig hier. Studiert habe ich in New York. Danach habe ich mich aufs Land zurückgezogen. Aber selbst …«, David senkte den Blick auf seine Schuhe – teuer, Pferdeleder, dunkel rot, gut eingelaufen, mit Troddeln, ich hatte sie noch nie an ihm gesehen – »… während meiner Abwesenheit gab ich mein Zimmer hier niemals ganz auf. Meine Mutter … Wir standen uns sehr nah. Ich brachte es nicht übers Herz.«
Ich hatte Edwiges Stimme im Ohr, die mir unaufgefordert von Mutter und Sohn berichtet hatte. Ihre Version war anders. Einer von beiden erzählte ein Märchen.
»Ich bin meiner Mutter sehr ähnlich, bis aufs Haar.«
Was sollte der Mist? Was erzählte David da? Ich machte Mona ein Zeichen, wir sollten gehen. Sie reagierte nicht.
»David Perlensamt, sagen Sie mir Ihr Sternzeichen. Sagen Sie mir, wann genau Sie geboren sind.«
Oh, nein, das durfte jetzt nicht kommen. Nicht dieser Quatsch mit dem Kaffeesatz und dem doppelten Boden in der Luft. Für diesen Tick hatte ich wirklich nichts übrig. Ich ließ die beiden stehen. Fast gleichzeitig mit einer in elegantes Samtblau gekleideten Dame nahm ich ein Glas vom Tablett und stellte mich vor. Sie reagierte nicht ganz so befremdet wie die Gäste bisher.
»Karin Nettelbeck, angenehm.«
»Wie darf ich Sie einordnen? Eine Freundin der Familie Perlensamt?«
»Eine Freundin? Ich weiß nicht, ob diese Familie Freunde hat. Die Pferde von Miriam Perlensamt stehen im selben Stall wie meine. Wir kannten uns vom Reiten und halfen uns gelegentlich aus, wenn eine von uns in Ferien war. Ich habe David auf der Beerdigung seiner Mutter kennengelernt. Irgendwann rief er mich an und fragte, was er nun mit den Pferden machen sollte. Und dann lud er mich zu dieser Party ein. Etwas eigenartig hier, meine ich. Ein bißchen so stelle ich mir das 19. Jahrhundert vor. Ist das wilhelminisch?«
»Ich bin in Stilfragen leider nicht sehr bewandert. Sind Sie zum ersten Mal in dieser Wohnung?«
»Allerdings, und das habe ich auch nur Miriams Tod zu verdanken. Sie machte immer den Eindruck, als würde sie eher ihre Tür vernageln als auf die Idee kommen, eine Einladung auszusprechen.«
Als ich erneut nach Mona und David Ausschau hielt, traf ich nicht einen Menschen, der zuvor schon einmal an diesem Ort gewesen war. Es war gut möglich, daß ich der einzige war, der die Wohnung in ihrem alten Zustand gesehen hatte. Perlensamt und Mona waren verschwunden. Niemand schien den Gastgeber zu vermissen. Ich machte mich auf die Suche und fand die beiden im hinteren Korridor.
»… einige Zeit vor der Nacht, in der mein Vater auf sie schoß, hatte sie immer wieder asthmatische Anfälle gehabt, und so entschloß ich mich, für einige Tage hier zu wohnen. Ich wollte in ihrer Nähe sein, wenn sie mich bräuchte. Deswegen war ich in letzter Zeit fast Tag und Nacht im Haus. So kam es, daß ich meinen Vater überraschte. Ich muß gestehen, ich hatte so eine Ahnung gehabt, daß dergleichen geschehen könnte.«
Wieso sprach er mit ihr darüber? Mit mir hatte er nie über den Tod seiner Mutter gesprochen.
«Warum hat Ihr Vater auf Ihre schlafende Mutter geschossen?«
»Warum tötet man im Schlaft Weil man nicht wagt, dem Opfer in die Augen zu sehen. Vielleicht ist das Opfer gar kein Opfer, sondern der Täter.«
Er hatte also doch eine Theorie.
»Sähe man seinen Blick, gelänge die Tat der Befreiung nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er gemeinsam mit ihr sterben wollte.«
Sie standen während des ganzen Gesprächs in der Dunkelheit, mit dem Rücken zu mir.
»Wo ist es passiert«, hörte ich Mona fragen.
»In dem letzten Zimmer ganz am Ende des Gangs. Ich bin nicht mehr drin gewesen, seit die Untersuchungen dort stattgefunden haben.«
Sie sahen sich nicht einmal um, wer da gekommen sein könnte, so vertieft waren sie in ihr Gespräch.
»Sie treibt Sie nicht um, die Frage nach dem Grund? Sie haben ihn nie gefragt?«
»Sie sind befremdet, liebe Mona. Aber Sie müssen verstehen, daß ich seit Wochen nichts mehr fürchte als diese Frage. Ich selbst plage mich Tag und Nacht damit, ohne daß ich meinen armen Vater damit behelligen kann.«
»Sie können ihn nicht behelligen?« Zum ersten Mal an diesem Abend erkannte ich
Weitere Kostenlose Bücher