Perlensamt
daß ich gar nicht im Bett gewesen bin. Ich fliehe in den Garten.
Am 24. Dezember hatte ich mich nach New York verdrückt. Mir fiel kein Ort ein, der mehr Distanz zum Geschehen der letzten Monate bedeutet hätte. Der Zufall wollte es, daß Bob allein war und Rosie mit einer Freundin auf Hawaii. Vermutlich hatten sie eine stillschweigende Vereinbarung. Rosie ernährte ihn gut. Er durfte sich um ein Haus und einen Garten kümmern. Dafür ließ er sie in Ruhe.
Ich wohnte auf der Upper West Side von Manhattan bei meinem Freund Gabriel und hütete dessen Hund Hank. Ich genoß den verschneiten Central Park, durch den ich jeden Morgen spazieren ging. Ich traf ein paar Leute. Ich besuchte Bob. Er erzählte mir, wie er es nannte, Belanglosigkeiten. Für mich waren sie alle höchst interessant, da sie alle Rosie betrafen. Rosie ging jetzt zum Einkaufen zu Bergdorf Goodman. Und zu Bendells. Das waren die edelsten Kaufhäuser auf der Fifth Avenue. Sie hatte die Grabstelle ihrer Eltern in Langenfeld gekündigt und war deswegen sehr erleichtert. Thanksgiving war schön gewesen, aber sie hatte mich vermißt und war beunruhigt darüber, daß ich in Deutschland lebte. Rosie war jetzt oft nervös. Sie verschwand in letzter Zeit noch häufiger in Manhattan als früher. Bob zeigte mir eine Photographie. Sie war im Club 21 aufgenommen, an einem der Vorweihnachtstage, als die Heilsarmee wie jedes Jahr während der Lunchzeit dort sang. Ich erkannte Rosie kaum wieder. Ihr Gesicht sah wie ein rosiger Pfirsich aus. Ein bißchen aufgepumpt. Sie wirkte erschreckend jung.
»Bob, wie alt ist Rosie?«
Bob hantierte in der Küche. Er hatte eine Lammkeule in den Ofen geschoben. Er genoß es, für jemanden zu kochen. Er wußte nicht, daß ich zwar gern ins Restaurant ging, aber nur wegen der Atmosphäre und der Betriebsamkeit. Aus dem Essen selbst machte ich mir nicht viel. Rosies Fleischekel konnte ich durchaus nachvollziehen. Aber natürlich würde ich essen, was Bob servierte. Mein Stiefvater kam mit zwei Dosen Bier aus der Küche und bot mir eine davon an.
»Dauert noch. Zum Essen trinken wir natürlich Wein. Château neuf du Pape.«
Das Bier zischte, als er die Lasche abzog. Bob lachte. Das Feuer loderte im Kamin. Draußen schneite es. Hank war vor dem Feuer eingeschlafen und schnarchte leicht. Wir hatten den Weg von Downtown über die Brücke zu Fuß gemacht. Lange hatte ich Schnee in New York nicht mehr genießen können. Die Wolkenkratzer, die sich in lichter Höhe bis ins Unendliche zu verlieren schienen, die Straßenschluchten, die Brücken, die breiten Flüsse: das alles hatte mir gefehlt. Ich betrachtete das Photo und wiederholte meine Frage. Ich wußte, daß das Alter in Rosies Paß nicht stimmte. Sie hatte sich bei ihrer Einbürgerung jünger gemacht. Aber ich wußte nicht, um wie viele Jahre.
»Ich nehme an, daß sie ungefähr sechzig ist«, sagte Bob gutherzig.
Er ist wirklich ein lieber Kerl. Wäre sie ungefähr sechzig, wäre sie fünfzehn gewesen, als sie mich gebar. Sie mußte mindestens sieben- oder achtundsechzig sein. Mindestens! Auf dem Farbphoto sah sie wie künstliche Fünfzig aus. Ihr Gesicht war eine lackierte Oberfläche. Ihr Haar von milchigem Rotblond. Sicher hatte ihr eine Friseuse der Upper East Side dazu geraten, weil die Farbe jünger macht. An die ursprüngliche Farbe konnte ich mich nicht erinnern. Ihre Lippen waren rot geschminkt, die Augen grau schattiert. Sie trug ein rosa-weißes Kostüm mit vielen goldenen Ketten und einem knapp über den Knien endenden Rock. Die hochhackig spitzen Schuhe verlangten schon auf dem Boden gute Balance – aber Rosies Pose sah geradezu halsbrecherisch aus: Sie stand auf einem Stuhl. Tatsächlich hatte das Mädchen aus Langenfeld es geschafft. Daß Rosie hier zu dieser Jahres- und Tageszeit auf einem Stuhl stand und den Chor der Heilsarmee mit einer Serviette dirigierte, zeigte, daß sie in Manhattan anerkannt war.
Rosie schwang die Serviette mit Anmut und Verve. Ihre Ketten waren in Bewegung geraten. Das Auditorium, das wie die Dirigentin offenbar sein Essen kalt werden ließ, hing an ihren Lippen. Ich stellte mir Rosie vor, wie sie Takt und Stimme vorgab und der Chor der Gäste ihr folgte. Ich meinte zu hören, was ich auf dem Photo sah. Mir wurde bewußt, daß es das erste und einzige Photo war, das ich von Rosie je gesehen hatte. Ich sah sie in meiner vagen Erinnerung als junge Frau, in der Küche unserer Wohnung in Queens, auf dem Rasen in Park Slope. Ich sah sie vor
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