Perlentod
Ampel, an der sie vor ein paar Tagen fast in ihr Unglück gerauscht wäre, schon wieder vor ihrer Nase auf Rot. Ein lautes Knattern näherte sich von hinten. Senta beachtete es nicht weiter. Erst, als sich eine schwere Hand auf ihre linke Schulter legte, registrierte sie, dass direkt neben ihr ein Mofa zum Stehen gekommen war. Senta zuckte jäh zusammen und rechnete mit dem Schlimmsten. Hatte Miriam ihr auch noch ihren Macker auf den Hals gehetzt?
»Kann ich dich mal was fragen«, rief eine quäkige Stimme. Senta blickte zurück und stellte erstaunt fest, dass gar nicht Miriams Freund hinter ihr stand. Neben ihr stand Beule. Als die Ampel auf Grün schaltete, deutete er ihr an, über die Kreuzung zu fahren und an der Bushaltestelle anzuhalten. Obwohl sie erleichtert war, dass nur Beule sie so erschreckt hatte, blieb Senta sicherheitshalber auf ihrem Fahrrad sitzen. Gute Manieren hin oder her, ganz geheuer war ihr dieser Kerl nicht. Beule stellte sein Mofa auf den Ständer und nahm den verbeulten Helm ab. Zum Vorschein kam ein eiförmiger Kopf, von dem die Haare in alle Richtungen abstanden.
»Wir kennen uns doch«, begann er. »Du winkst mir immer.«
»Na ja«, sagte Senta bedächtig. »Das ist nur so eine Geste.«
»Du gehst doch in die Schule, wo die Xeni gearbeitet hat«, fuhr Beule unbeirrt fort.
»Welche Xeni?«
»Xenia Polsterschmidt«, Beule kratzte sich mit fahriger Hand am Kopf. »Die ist ermordet worden, die Xenia. Und ich weiß, wer das war«, flüsterte er und sein Kopfkratzen wurde stärker. Senta begann, sich vor dem verrückt anmutenden Kerl zu fürchten. Eindringlich wiederholte er: »Ich weiß, wer das gemacht hat, ich weiß das!«
Oje, jetzt habe ich auch noch einen durchgeknallten Spinner an der Backe. Senta versuchte, möglichst verständnisvoll zu klingen, als sie fragte: »Wer war es denn?« Unauffällig zog sie die rechte Pedale ihres Fahrrads in eine günstige Position. Falls der Verrückte handgreiflich werden sollte, konnte sie sofort losdüsen.
»Der Bürgermeister war das!«, quäkte Beule.
»Und weshalb hat der Bürgermeister das getan?« Senta hatte einmal gelesen, dass man Verrückten nie widersprechen sollte.
»Weil die Xeni ihn entlarvt hat. Der Bürgermeister ist ein sehr böser Mann. Du musst dich in Acht nehmen.«
»Danke, dass du mich warnst«, meinte Senta und beobachtete entsetzt, wie sich Beules graugrüne Augen mit Tränen füllten.
»Arme Xeni. Die war eine Liebe. Eine ganz Liebe«, begann er plötzlich zu schluchzen und Senta sagte schnell, während sie schon anfuhr: »Ja, die war nett. Aber ich muss jetzt nach Hause.«
Beule folgte ihr nicht. Als sie sich noch einmal umdrehte, stand er immer noch neben seinem Gefährt und starrte ihr nach.
Zu Hause erwartete Senta ein mittleres Donnerwetter. Ihre Mutter, die einen freien Tag hatte, war völlig aus dem Häuschen, weil Senta mit einer Stunde Verspätung nach Hause gekommen war und ihr Handy abgeschaltet hatte.
»Ich bin kurz davor gewesen, mich auf die Suche nach dir zu machen«, warf sie Senta vor und die musste versprechen, ihr nie mehr so einen Schrecken einzujagen. Senta konnte es ihrer Mutter nicht einmal verübeln, dass sie so einen Wind machte. Immerhin wurde ein Mädchen in ihrem Alter seit Tagen vermisst! Wenn Mama wüsste, mit was für Horror-Erlebnissen ich in letzter Zeit konfrontiert gewesen bin, die wäre ein einziges Nervenbündel, dachte Senta. Obwohl ein Teil Sentas sich danach sehnte, sich endlich jemandem anzuvertrauen, verzog sie sich nach dem Mittagessen schnell in ihr Zimmer. Weder wollte sie ihre Mutter unnötig in Sorge versetzen, noch hatte sie Lust, dass die ihren Racheplan am Ende noch vereitelte. Zur Ablenkung griff Senta wieder nach dem Tagebuch.
22. Mai 1959
Heute ist Freitag. Bald eine Woche um und wieder das sinnlose Hoffen, dass Anna mich am Wochenende besuchen kommt. Ich möchte ihr so gerne alles erklären. Ob sie meinen Brief bekommen hat? Sie darf mich nicht für den halten, als der ich hingestellt werde! Wenn wenigstens W. käme und endlich eine gute Idee hätte, wie er uns aus dieser verflixten Geschichte heil herauskriegt. Er hat es mir versprochen. Bisher hat er seine Versprechen immer gehalten. Ich muss hoffen. Verraten werde ich ihn niemals. Darauf kann er zählen. Ich bin kein Verräter.
13
Gut gelaunt schritt Senta die Dorfstraße entlang. Der Mühlenweg lag etwas außerhalb des Ortskerns, direkt an einem kleinen Bachlauf. Zu Fuß brauchte man eine knappe
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