Perlentod
gedacht, dass ich überhaupt schlafen kann. Wenn ich mir vorstelle, dass manche Leute ihr ganzes Leben in so einer Zelle verbringen! Furchtbarer Gestank aus dem Lokus, der direkt neben der Schlafpritsche steht. Und so viele Geräusche in der Nacht. Schreie und Klopfen. Ich hoffe, die werden mir nichts nachweisen können. Hier kann ich es nicht aushalten!!
Senta hielt inne, sie war nun hellwach: Richart Rhön war ein Gefängnisinsasse! Ein Umstand, der sie genauso ängstigte wie faszinierte. Was, wenn dieser Richart, der allem Anschein nach ein Krimineller war, früher einmal hier gewohnt hatte? Vielleicht war mein jetziges Zimmer auch mal sein Zimmer, ging es ihr durch den Kopf und eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Aber so abwegig schien ihr die Möglichkeit gar nicht. Immerhin hatte Richarts Tagebuch jahrelang scheinbar unentdeckt in einer Kommode im Schuppen ihres Hauses gelegen.
Senta schaute sich das Foto noch einmal genauer an. Richart sah darauf aus, wie ein Siebzehn- oder Achtzehnjähriger und jetzt fiel ihr auch auf, was an ihm ihr so bekannt vorkam: Er erinnerte sie an Riko. Das lag nicht nur an der hohen Stirn und den Haaren, sondern auch an seiner ganzen Körperhaltung. Er hockte lässig auf dem Rand des Brunnens und lachte in die Kamera wie ein Star, dem die Welt zu Füßen liegt. Genauso hatte auch Riko immer auf sie gewirkt. Deshalb hatte sie sich ja sofort bis über beide Ohren in ihn verliebt.
Senta las im Tagebuch, bis ihr die Augen vor Müdigkeit brannten. Einen Hinweis auf das Zuhause Richarts fand sie leider nicht. Alle bisherigen Einträge stammten aus seiner Zeit im Gefängnis.
Nach den vielen Ereignissen des Wochenendes hatte Senta gar nicht mehr daran gedacht, dass Rebecca am Montag wieder in die Schule kommen wollte. Umso mehr freute sie sich, als sie sich am nächsten Morgen auf dem Gang trafen. Auch Rebecca strahlte und hakte sich gleich bei Senta unter. Eine Geste, die Miriam und ihren Hofdamen natürlich nicht entging.
Noch vor Unterrichtsbeginn rief Lolle höhnisch in ihre Richtung: »Senta hat gestern einen Frosch geküsst und jetzt hat er sich in Rebecca verwandelt!« Aber Lolle hatte nicht mit Zehka gerechnet. Nur eine Sekunde später packte er sie im Nacken und hielt ihr die Faust unter die Nase: »Riech mal«, forderte er sie auf. »Die stinkt nach Friedhof!«
»Lass sie los«, mischte sich Senta ein. »Das lohnt sich nicht.« Unwillig ließ der massige Junge sein Opfer los und Lolle ging mit hochrotem Kopf an ihren Platz. Keine der Hofdamen war ihr zu Hilfe geeilt.
Später, in der Französischstunde, warf Rebecca Senta einen verschwörerischen Blick zu. Frau Oschau hatte gerade um das Einsammeln der Vokabelhefte gebeten.
»Na, so etwas!«, Frau Oschau staunte nicht schlecht, als Rebeccas und Sentas Hände in die Höhe schnellten. Normalerweise meldete sich keiner der Schüler freiwillig für diese unbeliebte Aufgabe. »Formidable!«
Als Senta Miriams Heft in Empfang nahm, verzog sich deren Mund zu einem hässlichen Grinsen. »Hat dir dein Geschenk gefallen?«, zischte sie.
Senta spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Doch statt sich provozieren zu lassen, griff sie lächelnd nach Miriams Heft und tat, als habe sie nichts gehört. Dieses Biest würde ihre Quittung schon noch bekommen.
Zufrieden liefen Rebecca und Senta, die Vokabelhefte unter den Arm geklemmt, in Richtung Lehrerzimmer. Im letzten Moment bogen sie in die Mädchentoilette ab und schlossen sich in eine der Kabinen ein. Schnell hatte Senta den Zettel mit der Drohung aus ihrer Hosentasche gezogen und sie verglichen die Handschriften. Doch keine einzige Schrift ähnelte der auf dem Zettel.
»Fehlt heute jemand?«, überlegte Rebecca laut. Senta schüttelte den Kopf. Alle Schüler ihrer Klasse waren an diesem Tag anwesend. Offenbar hatte keiner Lust, die Englischarbeit nachzuschreiben.
Senta überlegte: »Vielleicht hat eine der Hofdamen ihre Schrift verstellt?«
»Oder jemand anders hat den Zettel für sie geschrieben?«, mutmaßte Rebecca und Senta pflichtete ihr bei.
»Vielleicht Miriams Freund…«
Auch wenn sie die Schrift nicht zuordnen konnten, stand für sie beide fest, dass Miriam und ihre Hofdamen hinter dieser Drohung steckten.
Wegen der gestrigen Suchaktion der Polizei drehten sich in der Schule fast alle Gespräche um die verschwundene Bettina. Auf dem Schulhof machten die wildesten Vermutungen die Runde. Viele von ihnen schienen von Klischees aus Horrorfilmen und Thrillern inspiriert. Ein
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