Perlentod
leuchteten als sonst.
»Ich nehme die Katze aber nicht auf den Schoß!«, sagte Senta schnell und schlug vor, in zwei Tagen vorbeizukommen.
»In Ordnung. Übermorgen wirst du also im Mühlenweg 7 deine Wette verlieren. Ich hoffe, du kannst backen!«, lachte Mo und zwinkerte seiner kleinen Schwester verschwörerisch zu.
»An deiner Stelle würde ich lieber Marimba üben, bis du Hornhaut zwischen den Fingern kriegst. Ich freue mich schon auf ein ausgedehntes Konzert«, konterte Senta und öffnete das Gartentor. Dabei fiel ihr ein kleines Paket, das zwischen den Zaunlatten gesteckt hatte, vor die Füße. Sie hob es auf, verabschiedete die Geschwister und sah sich das Päckchen genauer an. Nur ihr Name stand darauf, sonst nichts. Vorsichtig trug Senta es ins Haus und öffnete die sorgfältig verklebte Kiste mit dem Küchenmesser. Der ekelerregende Gestank, der sich sofort in der Küche breitmachte, ließ sie zurückschrecken. Als Senta es wagte, die Kiste ganz zu öffnen, entdeckte sie darin einen toten Frosch, dem die Gedärme aus dem Bauch quollen. Darauf lag ein bedruckter Zettel mit der Aufschrift »Küss mich, ich bin dein verwunschener Prinz!«.
12
Als Sentas Eltern von einem ausgedehnten Sonntagsspaziergang zurückkehrten, berichteten sie mit sorgenvollen Mienen, dass sie auf Heerscharen von Polizisten getroffen waren, die die umliegenden Wälder durchkämmten. Überall wurde nun nach Bettina gesucht und anscheinend schloss man nicht mehr aus, dass ihr etwas zugestoßen war.
»Das arme Mädchen. Die armen Eltern«, klagte Frau Herzog mit Tränen in den Augen.
»Vielleicht ist sie nur weggelaufen«, versuchte Senta, sie zu beruhigen. Dabei fühlte sie sich selbst gerade alles andere als ruhig. Sollte sie der Mutter von dem toten Frosch und der fiesen Clique erzählen, überlegte sie kurz, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Am Ende erschrak sich ihre Mutter noch mehr und ließ sie keinen Schritt mehr alleine tun. Noch, dachte Senta, besteht kein direkter Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bettina und den Attacken, die Miriam und die Hofdamen gegen sie richteten. Doch in ihrem Kopf rumorte es. Senta fragte sich, ob Miriam Bettina nicht auch schon das ein oder andere Mal im Visier gehabt hatte. So abfällig, wie sie und die Hofdamen sich über die Mitschülerin ausgelassen hatten, lag es doch nahe, dass sie auch bereits zum Opfer ihrer Machenschaften geworden war. Sie wäre schließlich nicht die Erste in der Klasse. Und jemand, der sich mitten zwischen Brieftauben ablichten ließ, war sicher ein gefundenes Fressen für die Mobbingattacken der Clique. Senta fiel wieder der Zettel mit der Drohung ein. Erst die Zuckerwatte, dann die Horrorschreck und dann du? Sie musste unbedingt herausfinden, ob die Clique etwas mit Bettinas Verschwinden zu tun hatte. Außerdem wollte sie Rebecca noch einmal darauf ansprechen. Vielleicht hatte die einmal mitbekommen, wie Bettina gemobbt worden war.
Wieder einmal konnte Senta nicht einschlafen. Sobald sie die Augen schloss, trat ihr entweder der grausame Inhalt des Päckchens oder die Suchstaffel der Polizei vors Auge.
Statt an den massakrierten Frosch zu denken, versuchte sie, den Nachmittag mit Mo und Clara noch einmal zu durchleben.
Die Nacht schritt fort und mit Sorge dachte Senta an den nächsten Schultag und die Englischarbeit, die auf sie wartete. Nachdem sie unzählige Schafe gezählt und sich immer noch kein erlösender Schlaf eingestellt hatte, knipste sie die Nachttischlampe an und schnappte sich das Tagebuch. Seitdem sie das Foto darin entdeckt hatte, lag es direkt neben ihrem Bett. Gedankenverloren blätterte sie das Büchlein durch und bemerkte überrascht, dass die Einträge noch nicht einmal bis zur Mitte des Buchs reichten. Mehr als die Hälfte der Seiten war leer. Der Tagebuchschreiber hatte wohl nicht lange durchgehalten. Senta musste schmunzeln. Leni und sie hatten sich mindestens fünf Mal vorgenommen, ein Tagebuch zu führen. Jedes Mal hatten sie nach ein paar Tagen aufgegeben. Interessiert schaute Senta auf das Datum des letzten Eintrags. Es war der 7. Juni 1959. Das machte es leichter, den ersten Eintrag zu lesen. Irgendwie hatte sie nicht mehr so stark das Gefühl, einem fremden Menschen damit zu nahezutreten. Schließlich war derjenige, der das geschrieben hatte, entweder schon sehr alt oder er lebte gar nicht mehr. Die Geschehnisse waren also sozusagen bereits verjährt.
11. Mai 1959
JVA
Meine erste Nacht im Gefängnis. Nicht
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