Perlentöchter
zurückbrachte.
Kaum kehrte Helen in ihr Mansardenzimmer zurück, hockte sie sich im Schneidersitz auf das schmale Bett mit der rauen Decke und dem mattgrauen Überwurf, den Bleistift in der rechten Hand, während sie mit der anderen das Papier auf ihrem Schoß fixierte, und skizzierte originalgetreu die Position des neuen Steinbetts ihrer Mutter unter dem Baum samt der hübschen Kirche daneben. Das bloße Zeichnen von Linien und das Schattieren des Dachs, auf das die Sonne ein verspieltes Muster geworfen hatte, bewirkten, dass sie sich etwas besser fühlte. Als wäre sie in einer anderen Welt, in einer, die niemand betreten konnte, außer vielleicht Mummy.
Bevor das Jahr um war, hatten Helen und Frank sich ein unbehagliches Verhaltensmuster angewöhnt, um nur ja nicht Tante Phoebes Unmut zu wecken. Einmal hatten sie kurz ihre Brüder gesehen, als eine Frau namens Irene, eine Freundin ihrer Mutter, die sich wohl in den Ferien um Geoffrey kümmerte, sie vorbeibrachte. Helen konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass Geoffrey es besser erwischt hatte mit dieser fröhlichen, zufriedenen Frau, die ihr beim Abschied freundlich die Schulter tätschelte und riet, »tapfer« zu sein.
»Tapfer«, so schien es, musste jeder momentan sein. Onkel Victor war tapfer, wenn er in einem fremden Land, von dem Helen nie gehört hatte, gegen die bösen Deutschen kämpfte. Sie konnte seine Rückkehr kaum erwarten: Allein der Anblick der Bücher in seinem Arbeitszimmer und der Duft der Geranien in seinem Gewächshaus machten ihr bewusst, dass er ein völlig anderer Mensch war als seine Frau. Sie alle mussten im Krieg tapfer sein, für den Fall, dass wieder eine Bombe fiel wie in der Nachbargemeinde, was die arme Mrs Rolls vom Postamt und ihre verwitwete Mutter das Leben gekostet hatte. Tapfer war Tante Phoebe, wenn sie meilenweit durch die Dörfer radelte, um geeignete Unterkünfte für Familien zu finden, die ins Land zurückgeholt wurden, auch wenn Helen nicht erkennen konnte, was daran so tapfer war. Sicher war dies einfach nur Teil der Kriegsanstrengungen, von denen alle redeten. Und tapfer war auch ihr Bruder Roger – tatsächlich ein seltenes Lob von ihrer Tante –, weil er sich bei der Royal Air Force verpflichtet hatte.
Helen nahm diese Neuigkeit mit Entsetzen auf. »Aber er hat Mummy versprochen, dass er das nicht macht! Das war, als Mummy und ich ihn das letzte Mal besucht haben. Er hat es versprochen. Hoch und heilig.«
Tante Phoebe, die den Brief in der Hand hielt, der sie über diese neueste Entwicklung informierte, rückte ihre Brille mit dem Drahtgestell gerade und betastete ihre Perlen, eine Angewohnheit, die Helen immer öfter an ihr wahrnahm. Es schien fast, als prüfe sie, ob die Perlen noch da waren und nicht etwa heruntergefallen, oder als versuche jemand, ihr das Collier vom Hals zu reißen.
»Nun, er hat sich freiwillig gemeldet, Helena, obwohl Gott allein weiß, warum sie ihn genommen haben in Anbetracht seines Alters. Bestimmt hat er nicht ganz die Wahrheit gesagt. Was soll’s, wir brauchen jeden Mann, den wir kriegen können.«
Helen mochte diese Sätze nicht. Jeden Sonntag in der kalten Steinkirche, in der Tante Phoebe für die Blumen sorgte, beteten sie für eine lange Liste von jungen Männern, die entweder verschollen waren oder, und die Vorstellung war für Helen unerträglich, tot. Roger als ihr ältester Bruder hatte sich immer ein bisschen distanziert verhalten, aber beim letzten Besuch hatte er sie zum Lachen gebracht und ihr gesagt, dass sie zugenommen habe in diesem kalten Land und dass es ihr gut stehen würde. Beim Abschied hatte er ihr ein klebriges schwarz-rotes Bonbon aus seiner Süßigkeitenkiste geschenkt. Aber jetzt war er nicht mehr im Internat. Er trainierte, um die Deutschen am Himmel zu bekämpfen.
Aber wenn Roger in der Luft und ihr Vater am Boden gegen die Deutschen kämpften, dann würde der Krieg doch sicher bald vorbei sein, oder nicht?
Es war der Tag, als Frank in den Keller gesperrt wurde, an dem sich das Leben wirklich änderte. Tante Phoebe ärgerte sich wieder einmal darüber, dass Frank sich weigerte zu sprechen, und Helen versuchte vergeblich, ihr zu erklären, dass er damit begonnen habe, weil sie ihnen verboten hatte, zu viel Lärm zu machen, und dass er nun Angst habe, überhaupt noch den Mund aufzumachen.
»Sag etwas«, fauchte Helen ihren kleinen Bruder an, nachdem Frank in dem besonders heftigen Streit sein Lesebuch auf den Boden geschleudert hatte,
Weitere Kostenlose Bücher