Perlentöchter
aussandte. »Tragödie« war ein Wort, das Helen zuvor nicht gekannt hatte, bis sie es ihre Tante am Telefon sagen hörte. Tatsächlich war sie sich nicht ganz sicher, was das Wort wirklich bedeutete.
»Tra-gö-di-e.« Sie probierte das Wort aus, indem sie es stumm in ihrem Mund kreisen ließ. Schweigen war etwas, das Frank und sie nach ihrer Ankunft bei Tante Phoebe in diesem stillen Ort, in dem anscheinend niemand sein Haus verließ, außer um in die Kirche oder zum Metzger zu gehen, sehr schnell gelernt hatten. Wenn sie sich unterhielten, waren sie immer zu laut, also mussten sie sich mit gedämpfter Stimme verständigen, aber wenn sie flüsterten, wurden sie automatisch verdächtigt, etwas zu verbergen. Wenn sie durch das Haus rannten – auf Borneo hatte Helen sich so schön austoben können! –, wurden sie sofort ermahnt, weil sie schließlich etwas umstoßen könnten, zum Beispiel eine der kostbaren Vasen in der Eingangshalle. Und wenn sie sangen, wozu ihre Mutter sie immer ermuntert und oft begleitet hatte, bekam ihre Tante fürchterliche Kopfschmerzen. Warum sie sich nicht einfach still hinsetzen und ein Buch lesen konnten, sei ihr ein Rätsel.
Kein Wunder, dass Frank praktisch überhaupt nichts mehr sagte.
Er weigerte sich auch, ein Buch in die Hand zu nehmen, was Tante Phoebe auf die Palme brachte.
»Fast sechs Jahre alt, und du kannst immer noch nicht lesen?« Sie starrte ihn nun über den Tisch hinweg an, und ihre kühlen blauen Augen musterten ihn missmutig. »Was hat sich eure Mutter dabei gedacht? Hat sie euch zu Wilden erzogen? Warum hattet ihr keine Hauslehrerin?«
»Wir hatten eine«, erwiderte Helen. »Wir hatten eine Kinderfrau.« Aber Tante Phoebe schürzte nur die Lippen, weshalb es sich erübrigte, dachte Helen, dieses Thema zu vertiefen, denn dann müsste sie zugeben, dass die Kinderfrau sie eigentlich gar nichts gelehrt hatte, außer wie man eine Zigarre rauchte, und dass es Mummy gewesen war, die ihr auf Borneo das Alphabet beibrachte, und anschließend die Grundschule, nachdem sie in diesem seltsamen, kalten Land angekommen waren.
Und nun besuchten sie schon wieder eine andere Schule, dieses Mal ganz in der Nähe von Tante Phoebes Haus, am anderen Ende der Straße, »bis sich eine beständige Alternative fand«.
Beständig? Das war wieder ein Wort, mit dem Helen nicht vertraut war. Als sie es in dem dicken Wörterbuch nachschlug in Onkel Victors Arbeitszimmer, stellte sie zu ihrer Bestürzung fest, dass mit »beständig« etwas gemeint war, das lange dauerte und sich nicht änderte. Was sollte das heißen? Alles änderte sich im Leben. Das war das Einzige, was Helen sicher wusste. Aber wenn sie sich zu viele Gedanken darüber machte, würden ihr nur die Tränen kommen, und das würde Frank verstören.
Nein. Sie musste tapfer sein – sie hörte die Stimme ihrer Mutter so deutlich in ihrem Kopf, als hätte sie laut gesprochen, nicht wie auf diesem kleinen Friedhof, zu dem Phoebe sie und ihren Bruder letzte Woche mitgenommen hatte, während sie ihnen erklärte, dass dort ihre Mutter nun sei. »Keine Tränen«, hatte sie gewarnt. »Das ändert auch nichts.«
Und zu eingeschüchtert, um zu widersprechen, hatten sie nur ehrfürchtig den Kopf gesenkt, wie ihre Tante es tat, und waren anschließend zurück zum Wagen gegangen. Erst dann, als Helen hinter ihrer Tante saß, wurde ihr bewusst, dass Phoebe das Perlencollier ihrer Mutter trug. Tatsächlich dachte sie einen Augenblick, ihre Mutter mit dem gleichen Schwanenhals vor sich zu haben, aber dann drehte Phoebe den Kopf, und Helen sah die kantige Nase, viel spitzer als die ihrer Mutter, und wieder übermannte sie das Gefühl von Ungläubigkeit, dass Mummy tatsächlich für immer weg war. Dann fiel ihr plötzlich eine Geschichte ein, die ihre Mutter ihr vor Jahren erzählt hatte. Von einer anderen Tante, die schon lange tot war und die Grace hieß, eine Schwester von Mummy – älter als Phoebe, aber jünger als Rose. Tante Grace hatte sich offenbar einmal die Perlenkette ihrer Mutter ausgeliehen, was zur Folge hatte, dass ein Hausmädchen entlassen wurde. »Danach habe ich mich gefragt«, hatte Mummy laut überlegt, »ob die Perlen nicht vielleicht Unglück bringen.«
Aber wie konnte das sein? Außerdem, selbst wenn das stimmte, sehnte Helen sich trotzdem danach, die Perlen am eigenen Hals zu spüren. Bis vor kurzem lagen sie noch um den Hals ihrer Mutter, sodass es durchaus im Bereich des Möglichen war, dass dies Mummy
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