Perlentöchter
sich. Bekam sie wieder einen Tadel, weil sie im Unterricht unkonzentriert gewesen war?
»Nicht von der hiesigen Schule. Versuch doch, richtig zuzuhören, Kind. Dieser Brief hier ist von einer richtigen Schule. Einer Schule für ältere Kinder an der Südküste, die du ab dem kommenden Schuljahr besuchen wirst.«
Warum hatte ihr das niemand früher gesagt?
»Ich habe mich an die Schule gewendet und die Situation erklärt, und sie haben eingewilligt, dich zu extrem günstigen Konditionen aufzunehmen. Du musst nicht einmal zum Vorstellungsgespräch, was unheimlich großzügig ist und vielleicht auch besser so. Wir werden allerdings etwas unternehmen müssen, was deine Haare und deine Kleidung betrifft, bevor du gehst.«
Aber wie würde sie jeden Tag an die Küste kommen?
»Das ist ein Internat, Helen. Du wirst nur in den Ferien zu Hause sein.«
Frank! Wer würde sich um Frank kümmern? Wer würde dafür sorgen, dass er nicht noch größere Schwierigkeiten bekam? Während ihr die Gedanken durch den Kopf schwirrten, wurde das Poltern aus dem Keller sogar noch lauter, sodass glatt einer der Bilderrahmen auf dem Tisch umkippte.
Tante Phoebes Lippen wurden schmal, während sie sich erhob und zur offenen Salontür ging. »Wirst du wohl still sein?«, rief sie mit einer Stimme, die die Stille zerschnitt. Dann wandte sie sich um, und dieses Mal nahm Helen ein Flackern in ihren Augen wahr, als fürchte sie sich vor etwas. »Leider enthält der andere Brief nicht so gute Neuigkeiten. Dein Bruder Roger ist in seiner Maschine über Norwegen abgeschossen worden. Er gilt als vermisst.«
Vermisst? Ein eiskalter Schauer durchrieselte Helen, wie vorhin, als sie in der Küche beobachtet hatte, wie ihre Tante einem Hasen das Fell abzog. »Aber können sie ihn nicht suchen?«
Wieder dieser Ausdruck in den Augen ihrer Tante. »Das ist nicht immer so einfach. Aber ich bin mir sicher, die tun ihr Bestes. Wir müssen tapfer sein, Helen. Schließlich haben wir Krieg, schon vergessen?«
27
Lieber Roger,
ich schreibe dir diesen Brief, obwohl es heißt, dass du als vermisst giltst, weil ich das komische Gefühl habe, dass das gar nicht stimmt. Ich glaube, du versteckst dich einfach wie früher auf Borneo. Ich kann es dir nicht verdenken. Ich würde mich hier am liebsten auch verstecken. Ich unterstelle dir nicht, dass du dich versteckst, weil du ein elender Feigling bist, also brauchst du nicht aus deinem Versteck zu kommen, nur weil du mich verprügeln willst (ein Scherz!!!). Ich nehme an, du verhältst dich einfach nur sehr schlau und versuchst, dich vor dem Feind unsichtbar zu machen, damit du aus dem Busch (gibt es einen Busch in Norwegen?) springen und deine Gegner überraschen kannst. Und dann kannst du sie fesseln und in ein anderes Flugzeug steigen und nach England zurückkommen.
Ich würde es ganz toll finden, wenn du zurückkommst. Tante Phoebe hat mich in ein Internat an der Südküste gesteckt. Wir dürfen erst in die Stadt gehen, wenn wir achtzehn sind, und das dauert noch Jahre. Und auch dann dürfen wir nur Briefmarken und Schokolade kaufen.
Frank ist immer noch bei Tante Phoebe, obwohl sie mir geschrieben hat, dass Edna bald kommt und ihn eine Weile lang zu sich nimmt, da er ziemlich unglücklich ist. Ich hoffe, Tante Phoebe hat ihn aus dem Keller rausgelassen und dass es ihm gut geht. Tante Phoebe kann zäh sein wie altes Schuhleder. Ich erinnere mich, dass Daddy das einmal gesagt hat, du dich auch?
Geoffrey sagt, er möchte wie du in die Royal Air Force eintreten, aber er ist noch zu jung. Stimmt es, dass du mit deinem Alter geschummelt hast? Ich hoffe, du hast die Finger gekreuzt, als du geschwindelt hast.
Ich höre jetzt besser auf, weil ich das hier mit der Taschenlampe unter der Bettdecke schreibe. Die Batterien geben bald ihren Geist auf, und ich weiß nicht, wann ich wieder welche bekomme. Es gibt ganz viele Sachen, die man jetzt nicht mehr herkriegt wegen dem Krieg, aber denk nicht, ich beklage mich, das tun wir nämlich nicht. Das wäre un-pa-tri-o-tisch. Und das würde bedeuten, wir machen Sachen, die nicht gut sind für unser Land, was nicht nett wäre wegen unserer tapferen Jungs an der Front. Es ist lustig, sich vorzustellen, dass du einer von unseren tapferen Jungs bist.
Ich schreibe dir bald wieder. Wie du auf dem Umschlag sehen kannst, schicke ich den Brief an deine alte Adresse, auch wenn die gesagt haben, dass du vermisst wirst, nur für den Fall, dass du inzwischen aus deinem Versteck gekommen
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