Perlentöchter
Helen ins Gesicht gespuckt. »Dabei habe ich wahrlich schon genug um die Ohren. Und ich weiß ehrlich nicht, was Victor dazu sagen wird, wenn er in seinem Fronturlaub zurückkommt.«
So viele Fragen, nicht genügend Antworten. Wussten Geoffrey und Roger Bescheid? Das Internat würde sie informieren, erwiderte Tante Phoebe schroff. Würden sie auch bei Tante Phoebe wohnen?
»Denkst du etwa, wir können euch alle vier aufnehmen? Sei nicht albern, Kind.«
Würde Vater nun aus dem Krieg heimkehren?
»Und wie soll er das machen? Fliegen wie ein Vogel?«
Aber dafür bekam sie auf die Fragen, die sie nicht stellte, genügend Antworten. Sie und ihr Bruder sollten oben in getrennten Zimmern schlafen, obwohl Frank das hassen würde, weil er sich im Dunkeln fürchtete und sie sich immer ein Zimmer geteilt hatten. Außerdem sollten sie vorerst die Schule hier um die Ecke besuchen, bis Phoebe eine andere Lösung gefunden hatte, was nichts Gutes ahnen ließ. Es war verboten, mit dem Ball zu spielen, außer ganz hinten im Garten, aber wehe, er landete in Onkel Victors Gewächshaus! Und fass nicht diese Bücher an, Helena, ohne dir vorher die Hände zu waschen.
Helens Zimmer war kalt, als wäre es viele Jahre nicht benutzt worden. Es zeigte nach hinten auf ein Freizeitgelände, »wo die gewöhnlichen Kinder spielten«. Das Bett war sehr schmal, und es gab nur eine dünne, graue, kratzige Decke. Helen hätte gerne nach einer Wärmepfanne aus Kupfer gefragt wie jene, die sie zu Hause hatte, aber aus Angst, wieder etwas Dummes zu sagen, traute sie sich nicht.
Wenn sie die Augen schloss und versuchte zu schlafen, riss sie sie kurz darauf wieder auf, weil sie meinte, jemand würde sich an ihr Bett heranschleichen. Es knarrte und knackte überall! Und durch den Vorhangspalt warf der Mond seltsame Schatten an die Wand. Es hatte keinen Zweck. Helen musste wohl der kalten Luft und den unbekannten Geistern trotzen – ihre Mutter hatte immer gesagt, dieses Haus habe eine eigenartige Atmosphäre. Als sie aufstand, um den Vorhang richtig zu schließen, stolperte sie über einen rechteckigen Gegenstand am Fußende des Betts. Er kippte auf den Boden, und Helen schrie kurz auf. Aus dem vergoldeten Rahmen blickte ihre Mutter zu ihr hoch, nicht so, wie Helen sie in Erinnerung hatte, sondern als Kind mit diesen kühlen, taxierenden Augen und den kastanienbraunen, wunderschön gelockten Haaren, die sich von ihrem weißen Kleid abhoben.
Es war das gleiche Porträt, das zu Hause im Wohnzimmer hing. Ein Porträt, das, wie Helen wusste, ihr Großvater angefertigt hatte, der ein ziemlich bekannter Maler gewesen war. Phoebe und Mummy hatten oft für ihn Modell gesessen, wie sie von ihrer Mutter wusste, als Studien für andere Werke, was immer das bedeutete.
»Tut mir leid, Mummy«, flüsterte Helen und hob das Gemälde auf, wobei sie damit versehentlich an der Wand entlangschrammte, sodass ein bisschen Putz herunterrieselte. »Ich hoffe, das hat nicht wehgetan.«
Vielleicht hatte Tante Phoebe das Porträt dorthin gestellt, um sie zu trösten! Das war es bestimmt. Ihre Mutter hatte ihnen früher gesagt, dass sie sich den scharfen Ton ihrer Tante nicht zu Herzen nehmen sollten, weil diese es in Wirklichkeit nicht so meinte, sondern nur eine sogenannte »Unsicherheit« dahinter verbarg.
Helen kroch zurück ins Bett und versuchte, sich in die Decke zu kuscheln, aber ihr war immer noch kalt. Sie setzte sich wieder auf und blickte sich um. Auf dem Nachttisch lag ein Bleistift. Und dort drüben ein Blatt Papier. Ihre Mutter hatte ihr immer Stift und Papier gegeben, wenn sie unruhig war. Helen fühlte sich sofort besser, als sie begann, die Vorhänge zu zeichnen, die immer noch einen kleinen Spalt offen standen, durch den der Mond hereinspähte. Während sie zeichnete, ertappte sie sich dabei, dass sie leise ein Lied vor sich hin summte, das ihre Mutter früher oft gesungen hatte. Der Text fiel ihr zwar nicht mehr ein, aber die Melodie tröstete sie.
Ehe Helen sich’s versah, brach der Morgen an, denn statt des Mondes konnte sie nun eine blasse Sonne sehen. Und am Fußende des Betts, wo der rechteckige Schatten sich abgezeichnet hatte, war nichts außer einem kleinen Abdruck im Läufer an der Stelle, wo das Porträt gestanden hatte.
26
Erst als Helen eigene Kinder hatte, erkannte sie, was für eine Tragödie der Tod ihrer Mutter gewesen war, der nicht nur ihre direkte Familie auseinanderriss, sondern Schockwellen in zukünftige Generationen
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