Perlentöchter
bist.
Falls ja, hast du Daddy gesehen? Ich habe seit einer Ewigkeit keine Nachricht von ihm erhalten. Aber vielleicht siehst du ja gar nicht viel von den Bodentruppen.
In Liebe,
deine Schwester Helen
Sie hoffte, sie würde Roger nicht beunruhigen wegen Frank. Würde er den durchgestrichenen Satz mit dem Keller lesen können? Hoffentlich nicht.
»Macintyre?«, zischte eine Stimme mit deutlichem Akzent aus dem Bett neben ihr.
»Ja?«
»Biste endlich fertig mit Schreiben?«
»Ja.«
»Gut. Ich will nämlich schlafen.«
»Sorry.«
Helen lag in ihrem schmalen Bett und beobachtete das Mondlicht, das durch das nackte Fenster schien. Es war kalt, und die dünne raue Decke half nicht, um sich vor dem Wind zu schützen, der durch die Ritzen pfiff. Schaute ihr großer Bruder gerade in den Himmel, so wie sie? Es hieß, er sei über Norwegen abgeschossen worden. Sie hatte im Geografieunterricht im Atlas nachgeschaut, als sie eigentlich Südamerika aufschlagen sollten. Norwegen war gar nicht so weit weg von England. Roger war ein tapferer Junge. Das hatte ihr Vater immer gesagt. Vielleicht konnte er durch das Meer zurückschwimmen, wenn er aus seinem Versteck herauskam. Helen hoffte es sehr.
Sie drehte sich auf die andere Seite. Es waren Gedanken wie diese, die ihr wieder und wieder durch den Kopf kreisten und sie am Schlafen hinderten. Es gab nur eins, was dagegen half, nun ja, eigentlich zwei Dinge, wenn man das Ave Maria dazuzählte, aber das schien in letzter Zeit nicht mehr richtig zu funktionieren, und außerdem hatte jemand ihren Rosenkranz gestohlen. Aber wenn sie die andere Methode probierte, könnte sie damit das Mädchen neben sich wecken, dasselbe, das sich gerade beschwert hatte, weil sie einen Brief schrieb.
Helen spitzte die Ohren. Aus den Betten neben ihr kam gleichmäßiges Atmen. Am anderen Ende des Schlafraums, der insgesamt acht Mädchen beherbergte, konnte sie ein leises Pfeifen hören ähnlich wie im Schulorchester, in das man sie gesteckt hatte und wo ihr nun jedoch der Rauswurf drohte, wenn sie nicht genauso fleißig mit der Geige übte wie am Klavier.
Langsam, ganz langsam, kroch Helens Hand unter der dünnen Decke hervor und tastete nach der offenen Schublade des kleinen kastenförmigen Nachttischs neben ihr. In der Dunkelheit schlossen ihre Finger sich um den Bleistift und ein Blatt Papier, das sie immer unter ihrer Bibel versteckte. Mit angehaltenem Atem lehnte sie sich zurück in ihr Kissen und starrte hinaus zum Mond, während sie sich seine Form einprägte. Er erinnerte ein wenig an einen verbogenen Topfdeckel, die Sorte, die Tante Phoebe immer genommen und gegen einen anderen Topfdeckel geschlagen hatte, wenn Frank und sie ihre Anweisungen nicht befolgten.
Helens Bleistift begann, sich geschickt über das Papier zu bewegen, als würde eine unsichtbare Macht ihn anschieben. Nein, nicht anschieben. Gut zureden. Necken. Beschleunigen. Ihn überzeugen, die Konturen auf Papier nachzuzeichnen, obwohl sich in der Dunkelheit schwer erkennen ließ, ob ihr das gelang oder nicht. Das war besser. Während ihre Hand sich bewegte, spürte Helen einen tiefen Frieden, der sich in ihr ausbreitete. Der Kloß im Hals war weg, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war. Die Aussicht auf den kommenden Morgen mit der Doppelstunde Mathematik (igitt!) schien nicht mehr so beängstigend.
Als Helen dann am Morgen aufwachte, stellte sie fest, dass sie immer noch den Bleistift umklammerte. Die Skizze war vom Bett gefallen, aber einwandfrei erkennbar als ein Pfannendeckel auf dem Mond. Vorsichtig steckte sie das Blatt in das Buch Hiob zu den anderen nächtlichen Zeichnungen, die sie angefertigt hatte. Und dann wappnete sie sich gegen den kalten Linoleumboden unter ihren Füßen, während sie nach ihren Pantoffeln angelte, und reihte sich ein in die Schlange vor dem Waschraum nebenan. Ein neuer Tag hatte begonnen.
Das Problem mit der neuen Schule war, das alle anderen schon eine Ewigkeit hier waren und Freundschaften geschlossen hatten. Es nützte nicht, dass Helen aus einem anderen Land kam oder dass ihre Mutter tot war.
Beide Tatsachen schienen die anderen Mädchen abzuschrecken, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.
Beth war eine der wenigen Ausnahmen. Klein, zierlich und sehr hübsch, war sie beinahe das Gegenteil von Helen, oder zumindest dachte diese das. Roger hatte recht gehabt, als er ihr beim letzten Mal sagte, dass sie zugenommen habe, aber unrecht damit, dass es ihr stehen würde. Jedes Mal, wenn
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