Perlentöchter
Helen in den Spiegel blickte, versetzte es ihrem Herzen einen kleinen, dumpfen Stich, weil sie einfach nicht so aussah wie Beth oder die anderen Mädchen. Unter dem Gürtel ihrer Schuluniform wölbte sich ihr Bauch hervor, und ihre feinen Wollstrümpfe hatten ständig Löcher, was das allgemeine Erscheinungsbild nicht gerade verbesserte. Obwohl sie sich in Hauswirtschaft als überraschend geschickt erwies und rasch gelernt hatte, wie man Socken richtig stopfte, schien sie ständig Laufmaschen zu haben.
»Meine Mummy wird dir helfen, wenn du uns besuchst«, versprach Beth eines Tages.
Helen blieb vor Begeisterung die Luft weg. Sie konnte es nach wie vor nicht glauben, dass ihre neue Freundin tatsächlich nach Hause geschrieben hatte, um zu fragen, ob sie Helen in den Ferien mitbringen durfte. Tante Phoebe hatte offenbar auch nichts dagegen, und schon morgen würden sie in die Osterferien aufbrechen!
Es gab nur ein Problem. Helen wusste von anderen Mädchen, die bei ihren Freundinnen übernachten durften, dass es sich gehörte, den Gastgebern ein Geschenk mitzubringen. Sie hatte ihrer Tante geschrieben und sie gebeten, ihr etwas zu schicken, das sie Beths Mutter geben konnte, aber es war nichts gekommen.
Dieses Problem beunruhigte sie so sehr, dass sie, als sie am nächsten Morgen aufwachte, krank war.
»Wir können dich nicht nach Hause schicken, wenn du krank bist«, sagte die Hausmutter.
Vergeblich versuchte Helen zu erklären, dass sie nicht nach Hause ging.
»Der einzige Ort, wo du hingehst, ist das Krankenzimmer«, erwiderte die Hausmutter, die eine pockennarbige Haut hatte wie einige der Einheimischen damals auf Borneo. »Du könntest schließlich etwas Ansteckendes haben.«
Am nächsten Morgen waren die Bauchschmerzen und die Übelkeit verschwunden. Genau wie Beth.
Einen Tag später kam ihre Tante und holte sie mit ihrem kleinen grauen Wagen ab, der ein klapperndes Geräusch machte, das aber scheinbar nicht behoben werden konnte, bevor die Deutschen besiegt waren. Tante Phoebe schimpfte während der ganzen Fahrt über die Benzinrationierung und Helens kurzfristige Unpässlichkeit, als wäre sie absichtlich krank geworden. »Wie ärgerlich …«, »Ich musste meine Bridge-Partie unterbrechen …«, »Ich habe den Eindruck, du isst wieder zu viel …«
Das war sicher ein Scherz, denn an der Schule waren sich alle einig, dass sie bei den winzigen Portionen, die sie erhielten, praktisch hungerten und dass dagegen nur half, sich mit Pudding vollzustopfen.
Helen verbrachte die Osterferien auf ihrem Zimmer, wo sie sich leise verhielt, oder, falls es nicht zu kalt war, in Onkel Victors Gewächshaus, zu dessen Wächter sie sich selbst ernannt hatte. Sie besaß inzwischen eine ansehnliche Sammlung von Skizzen, die sie sorgfältig unter ihrer Matratze versteckte. Man konnte nie wissen, was ihrer Tante alles ein Dorn im Auge war, und Zeichnen war sicherlich eine Sünde, genau wie zu vergessen, die Hühner abends einzusperren. Das hatte neulich zu einem schrecklichen Streit geführt, in dem Helen vorgeworfen wurde, dass sie wieder einmal vergaß, dass sie Krieg hatten und sich irgendwie ernähren mussten.
Dann, eines Tages, passierte etwas Wunderbares! Tante Phoebe, noch herrischer als sonst, befahl ihr, die Küche aufzuräumen, obwohl Helen das nach dem kargen Frühstück mit selbstgebackenem Brot, das absolut scheußlich schmeckte, bereits gründlich erledigt hatte. Während sie einen Kochtopf abtrocknete, vernahm sie ein Klopfen an der Tür und gleich darauf eine männliche Stimme.
»Ist denn niemand hier, um mich zu begrüßen?«
Sie stürzte in die Eingangshalle, wo ein Mann in einer braunen Uniform und mit einem Sack über der Schulter sie mit zwinkernden Augen hinter einer runden Brille anstrahlte.
»Meine Güte, Liebes! Du bist aber gewachsen!«
Onkel Victor!
Aber bevor sie etwas sagen konnte, stürmte ihre Tante die Treppe herunter, bloß dass sie nicht aussah wie ihre Tante. Obwohl sie genau dieselbe Kleidung trug, die Phoebe vor ungefähr einer Stunde anhatte, lächelte und weinte diese Tante gleichzeitig. Sie fiel Onkel Victor um den Hals, und er hob sie empor und wirbelte sie herum. Dann – ein Wunder nach dem nächsten! – lachte sie sogar richtig.
»Fehlt dir etwas, Tante Phoebe?«, hörte Helen sich sagen.
Ihre Tante drehte sich schwungvoll zu ihr um. »Geh auf dein Zimmer, Helen. Du kannst später herunterkommen.«
Onkel Victor sah aus, als wollte er etwas sagen, aber dann überlegte
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