Perlentöchter
er es sich offenbar anders. Als Helen die Treppe hochstapfte, warf sie einen Blick zurück und sah, dass er den Kopf zu ihr hob. Es war nur eine kleine Geste, aber sie war sich sicher, dass sie sie gesehen hatte. Er hatte ihr zugezwinkert!
Das Leben war so viel einfacher nun, da Onkel Victor zurück war, auch wenn es nicht für lange sein würde. Er hatte sogenannten Heimaturlaub, und Helen wünschte sich, dieser würde nie zu Ende gehen. Tante Phoebe war viel netter, seit er wieder da war. Zwar schimpfte sie immer noch mit ihr, aber nicht mehr so häufig, und Helen bekam außerdem mehr Zeit für sich und ihre Skizzen. Sie hatte ihr Taschengeld gespart und sich einen kleinen Malkasten im Dorfladen gekauft, obwohl sie sehr vorsichtig sein musste, damit sie in ihrem Schlafzimmer keine Farbe auf den Boden kleckerte.
Es gab nur eine Sache, die recht merkwürdig war. Während der knapp vier Wochen, die Onkel Victor zu Hause verbrachte, entdeckte Helen eines Tages Blutspuren auf dem Boden, als sie das Bad betrat. Da sie befürchtete, jemand hätte sich verletzt, stürzte sie nach unten, um ihre Tante zu verständigen.
Zu ihrer Überraschung färbte sich Phoebes Gesicht dunkelrot.
»Natürlich ist niemand verletzt, du dummes Mädchen.«
Helen war nicht überzeugt. Erst heute Morgen hatte sie gedämpfte, hitzige Stimmen aus dem Schlafzimmer ihrer Tante und ihres Onkels gehört. Es klang ein wenig wie die »Diskussionen«, die ihre Eltern früher hatten, bevor Daddy in den Krieg zog. Hatte ihre Tante, oh bitte Gott, nein, ihren Onkel vielleicht umgebracht?
Unfähig, bis zur Mittagszeit zu warten, um zu erfahren, ob alles in Ordnung war, eilte Helen hinaus zu dem Gewächshaus, wo ihr Onkel gewöhnlich den Vormittag bei seinen Tomatenpflanzen verbrachte.
»Mein liebes Kind, was hast du?«, fragte er.
Helen brach vor Erleichterung in Tränen aus, aber ihr Onkel interpretierte diese fälschlicherweise als Kummer.
»Ist es wegen deinem Bruder?«
Sie nickte, weil ihr das richtig erschien.
»Ich weiß. Es ist sehr hart.« Er legte den Arm um sie und drückte sie kurz. »Aber wir müssen tapfer sein, Helen. Es ist nun mal Krieg.«
Sie nickte wieder.
»Ich werde bald zu meinem Regiment zurückkehren.«
»Muss das sein?«
Er nickte. »Ich fürchte, ja. Pass auf deine Tante auf, wenn ich fort bin, Liebes. Für sie ist es auch nicht leicht. Wirklich schade, dass wir nie …«
Er unterbrach sich, weil er heftig husten musste, nachdem er an seiner Pfeife gezogen hatte. Als der Hustenanfall vorüber war, bog er den Rücken gerade und wandte sich wieder seinen Tomaten zu. »Pass einfach auf sie auf, mein Liebes. Ich weiß, deine Tante kann sehr streng wirken, aber sie meint es nur gut.«
»Warum war es für Tante Phoebe nicht leicht?«, wollte Helen fragen. Aber der steife Rücken in dem Tweedjackett gab ihr das Gefühl, dass es besser war, den Mund zu halten.
Noch im selben Monat kehrte Onkel Victor zurück an die Front und Helen zurück ins Internat.
Das Schultrimester verlief ähnlich wie das vorherige, bloß dass Sommer war, was die schlechte Laune der Lehrer etwas zu mildern schien. Helen hoffte, dass das auch bei ihrer Tante zu Hause funktionierte.
»Ich habe Lacrosse gelernt«, schrieb sie an Roger. »Und im Klavierunterricht bin ich schon in der vierten Stufe. Meine Freundin Beth hat gesagt, ich kann in den nächsten Ferien zu ihr nach Hause kommen. Ich muss dafür sorgen, dass ich nicht wieder Bauchschmerzen kriege. Bist du immer noch in deinem Versteck? Bitte, komm doch bald heraus, ich mache mir nämlich Sorgen um dich.«
Beths Mutter hielt Wort. Sie lud Helen tatsächlich erneut ein und sagte ihr, sie solle sich keine Gedanken machen, wenn sie kein Geschenk hatte, da Helens Anwesenheit an sich schon Geschenk genug sei. Beth hatte ihrer Mutter so viel über sie erzählt!
Beths Zuhause war nicht so groß wie das alte Gutshaus, aber viel wärmer. Beths Mutter spielte auch Klavier, und sie lachten und scherzten und sangen fast jeden Abend. Zur Schlafenszeit deckte Beths Mutter beide Mädchen in ihren Betten mit identischen blauen Decken zu und sagte ihnen, sie bräuchten keine Angst zu haben, da es in diesem Teil des Landes bisher kaum Luftangriffe gegeben habe.
»Das mit deiner Mutter tut mir so leid«, sagte sie eines Abends zu Helen, und ihre Worte waren wie ein Schock. Manchmal kam es Helen vor, als wäre Mummy nur ein Traum gewesen. Und dann wiederum, als wäre Mummy noch auf Borneo und wartete darauf,
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