Perlentöchter
dass Helen zu ihr kam.
»Eigentlich mache ich mir hauptsächlich Sorgen um meinen Bruder«, hörte Helen sich sagen und erzählte unwillkürlich Beths freundlicher Mutter alles über Roger, der vielleicht Verstecken spielte oder auch nicht in diesem Land namens Norwegen.
Beths Mutter lauschte still Helens Geschichte und sagte anschließend, dass sie mit Beths Vater sprechen werde, der im Kriegsministerium arbeitete. Viel zu bald war es für Helen Zeit, zu Tante Phoebe zurückzukehren, wo sie die restlichen Ferien verbrachte. Aber kaum betrat sie ihr Zimmer, wusste sie, dass etwas passiert war. Ihr Bett stand an einer anderen Stelle, und der kleine Tisch samt Stuhl war nun auf der anderen Seite des Raums.
Helen stürmte die Treppe hinunter, um ihre Tante zu finden, die wie üblich in der Küche war und das Gemüse aus dem Garten verarbeitete, während sie nebenbei Radio hörte. »Meine Skizzen«, wollte sie sagen, aber es klang wie ein Röcheln.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, Kind, du sollst nicht nuscheln?«
Helen versuchte, ihre Stimme in den Griff zu bekommen. »Ich kann meine Skizzen nicht finden. Sie waren unter meiner Matratze.«
»Skizzen?« Phoebes Nase schien über die Frage nachzudenken, während sie zuerst auf der einen Seite zuckte, dann auf der anderen, ähnlich wie bei Phoebes Hund Rupert, einem großen, stinkenden Labrador, den sie offenbar nach einem Dichter benannt hatte und der außer seinem Frauchen keinen leiden konnte. »Meinst du die alten Papierfetzen mit den Farbklecksen?«
Helen nickte.
»Die habe ich weggeworfen. Du solltest wirklich nicht so viel Müll hinterlassen, Helena. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du musst besser Ordnung halten? Meine Güte, Kind, was ist denn los? Wo willst du hin?«
Sie wusste es selbst nicht. Sie wusste bloß, dass sie das Bedürfnis hatte wegzulaufen. Und zwar so schnell sie konnte, über das Feld hinter dem Grundstück und dann über das nächste und übernächste. Es war schon fast dunkel, aber sie wollte nicht zurück. Schließlich blieb sie vor einem Gatter stehen und weinte. Weinte um ihre Mutter. Weinte um ihren Bruder, der wahrscheinlich tot war statt in einem Versteck. Und weinte um ihre anderen beiden Brüder, die sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte, dass sie ihre Gesichter vergessen hatte.
Dann, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen, machte sie sich langsam auf den Rückweg.
»Da bist du ja.« Ihre Tante war weiß im Gesicht, das so verkniffen wirkte, wie Helen es noch nie gesehen hatte. »Jag mir nie wieder einen solchen Schrecken ein.«
Helen funkelte sie an. »Ich dachte, du wärst froh, wenn ich weg bin. Du willst mich hier nicht haben, oder?«
Ihre Tante wirkte eingeschüchtert, wodurch sich Helen zur Abwechslung einmal als die Stärkere fühlte.
»Das ist es nicht. Es ist … Ach, egal. Geh jetzt bitte ins Bett, ja?«
Langsam stieg Helen die Treppe hoch. Als sie ihr Zimmer betrat, musste sie sich an der Wand abstützen.
»Mummy!«
Denn dort, genau vor ihr, war ihre Mutter. Dieselben freundlichen Augen. Derselbe Mund, der ihr jeden Abend einen Gutenachtkuss gegeben hatte. Derselbe Gesichtsausdruck. Bloß dass er einem Kind gehörte.
Tante Phoebe hatte das Porträt ihrer Mutter aus dem Salon geholt und in Helens Zimmer gehängt. War das ein Friedensangebot?
Sie ging auf Zehenspitzen wieder nach unten. »Danke.« Vorsichtig gab sie ihrer Tante ein Küsschen auf die Wange. Sie fühlte sich weicher an, als sie gedacht hatte.
»Lass den Unsinn, Kind«, entgegnete ihre Tante.
Aber Helen konnte an ihrem Unterton hören, dass sie sich freute.
In der darauffolgenden Woche wurde sie zurück ins Internat geschickt. Bis dahin war Tante Phoebe in ihr altes Ich zurückgefallen, und Helen war fast dankbar, dass die Schule wieder losging.
28
Es war die neue Kunstlehrerin, die sie rettete. Miss Diamond hieß sie, und es kursierte das Gerücht, dass sie mit einem amerikanischen Soldaten liiert war, der sie mit Nylonstrümpfen und Schokolade versorgte. Sicher war, dass Miss Diamond sich sehr von den anderen Lehrerinnen unterschied, die ihrer neuen Kollegin abschätzige Blicke zuwarfen, wenn sie ihr im Flur begegneten, wie Helen beobachtet hatte.
Zunächst einmal äußerte sich das darin, dass sie Helen mochte. Sie tadelte sie nicht wie die Mathematiklehrerin, weil Helen die Geheimnisse der Algebra nicht verstand. Und auch wenn Helen die französische Sprache scheinbar leicht fiel, obwohl sie nie in Frankreich
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