Perlentöchter
wickelte, in das Helen und Miss Diamond es sorgfältig verpackt hatten. »Das ist ausgezeichnet. Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«
»Ich habe es dir doch gesagt, Mummy!« Beth hüpfte vor Begeisterung auf und ab. »Sie hat mich genau getroffen, nicht wahr? Sogar meine Nase!«
Beths Vater rückte seine Brille auf der eigenen Nase zurecht, deren Form große Ähnlichkeit mit der seiner Tochter hatte, und als er die Gläser schließlich zufriedenstellend platziert hatte, drückte seine Miene ebenfalls Anerkennung aus. »Hast du davon noch mehr, Liebes?«
Also zeigte Helen ein paar weitere Kohlezeichnungen, die sie gemacht hatte, und erklärte, dass sie erst vor kurzem mit Porträts begonnen habe und dass sie eigentlich Wasserfarben und Landschaftsmalerei bevorzuge.
»Wer ist das?«, fragte Beth, die mit der Nase über der Schulter ihres Vaters hing, während sie auf das Porträt eines sehr hübschen jungen Mannes in Uniform blickten, auf dessen Kopf keck ein Royal-Air-Force -Schiffchen saß, während seine lächelnden Augen an diesen attraktiven Schauspieler erinnerten, Cary Grant, für den sie bei ihren seltenen Besuchen im Lichtspieltheater alle schwärmten.
»Mein Bruder Roger.« Helen versuchte, in gleichmäßigem Ton zu sprechen.
»Hast du denn etwas von ihm gehört?«, fragte Beths Mutter mit leiser Stimme. Helen, der auffiel, dass Beths Mutter ihrem Mann dabei einen recht eigenartigen Blick zuwarf, schüttelte lediglich den Kopf und zeigte das nächste Porträt. »Das ist mein Bruder Geoffrey. Er ist der Zweitälteste.«
Alle drei nickten. »Die Ähnlichkeit zwischen euch ist nicht zu übersehen«, sagte Beths Mutter. »Ist er noch in Christchurch?«
Helen schüttelte den Kopf. »Er wollte auch zur Royal Air Force, aber er hat den medizinischen Test nicht bestanden, also ist er stattdessen in die Army eingetreten. Er macht gerade seine Grundausbildung irgendwo im Norden. Und das hier ist mein kleiner Bruder Frank, den ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen habe. Er ist bei unserer Haushälterin.«
Wieder schien ein seltsamer Blick zwischen den Gesichtern zu wechseln, die sie umringten. »Nun, meine Liebe«, sagte Beths Vater, während sie ihre Arbeiten wegräumten, um den Tisch für die scharfe Brennnesselsuppe, die ihre Mutter früher auch immer gekocht hatte, und das Wildkaninchen zu decken. »Ich denke, jemand sollte mit deiner Tante über die Möglichkeit reden, dass du eine Kunstschule besuchst, wenn der Krieg vorüber ist.«
Helen überkam ein aufgeregtes Kribbeln. Kunstschule! Vielleicht würde aus ihr eine berühmte Malerin werden, so wie ihr Urgroßvater ein berühmter Maler war? Tatsächlich war sie sich nicht sicher, ob sie berühmt werden wollte, aber sie wollte unbedingt malen. Es war nämlich das Einzige, was half, das Einzige, womit sie ausblenden konnte, was geschehen war, seit ihre Mutter sie verlassen hatte.
Lieber Roger,
das errätst du nie! Meine Freundin Beth – du erinnerst dich, ich habe dir schon von ihr geschrieben – hat mich zu ihren Eltern eingeladen, und ich habe ihnen ein paar von meinen Skizzen gezeigt. Darunter war ein Porträt von DIR , und alle fanden, dass du sehr gut aussiehst. Bilde dir bloß nichts darauf ein! Beths Eltern wollen mit der Schule sprechen, damit die mit Tante Phoebe reden, um zu sehen, ob ich vielleicht auf die Kunstschule darf, wenn der Krieg vorüber ist.
Ich kann es nicht erwarten, dass du zurückkommst.
Pass bitte auf dich auf.
In Liebe und Bewunderung,
deine Schwester Helen
Die Monate vergingen schneller als zuvor, dank Miss Diamond und den Geheimnissen des Kunstraums. Ehe Helen sich’s versah, war es Zeit, wieder zu Tante Phoebe zurückzukehren. Zu ihrer Enttäuschung stellte sie fest, dass sie einen von Onkel Victors Heimaturlauben verpasst hatte. Sollte dieser die Stimmung ihrer Tante aufgeheitert haben, hatte sie auch das verpasst. Stattdessen trug Phoebe eine ständige Grimasse, und als Helen wieder Blut im Bad entdeckte, wischte sie es einfach auf und beschloss, kein Wort darüber zu verlieren.
Tante Phoebe war auch nicht sehr gesprächig während der Ferien, sodass Helen sich selbst überlassen blieb, was ihr recht war. Tagsüber machte sie sich davon, den Zeichenblock und die Farben in ihrer Tasche. Ihr Lieblingsplatz war ein tiefer Krater auf einer Hügelseite, in die zu Kriegsbeginn eine Bombe eingeschlagen hatte. Über die Narbe wuchs schon wieder Gras. Helen war inzwischen siebzehn – es würde nicht mehr lange
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