Perlentöchter
versteckt.«
»Versteckt?« Die buschigen Augenbrauen fügten sich zu einem großen, grauen, zerklüfteten Gestrüpp zusammen. »Was zum Henker meinst du damit, Helen? Roger ist in einem deutschen Kriegsgefangenenlager. Zumindest beten wir zu Gott, dass es so ist. Hat dich niemand informiert? Ich dachte, ich hätte dir das ausrichten lassen.«
Helens Mund wurde trocken, und sie bekam vor Aufregung kaum Luft. »Mich hat niemand informiert. Dann heißt das, dass es Roger gut geht?«
Ihr Vater sah sie unverwandt an. »Das wissen wir nicht. Geoffrey, der arme Junge, hat keinen sehnlicheren Wunsch, als endlich loszulegen, aber er wartet immer noch auf seinen Einsatzbefehl.« Er hustete kurz. »Ich gehe davon aus, dass du nicht den Wunsch hast, mit uns nach Borneo zurückzukehren. Außerdem habe ich von deiner Direktorin erfahren, dass allgemein Einigkeit darüber herrscht, dass du eine gute Krankenschwester abgeben würdest.«
»Ich würde gerne die Kunstschule besuchen«, brachte Helen heraus. Sie sah zu der Direktorin, die sie anstarrte, als hätte Helen nicht am Ende des letzten Schuljahrs eine Auszeichnung für ihre Bilder bekommen. »Miss Diamond, meine Kunstlehrerin, sagt, das wäre das Richtige für mich.«
»Ach, sagt sie das?«
Seine Stimme wurde tiefer vor Missbilligung. »Dann werde ich wohl deine Direktorin bitten müssen, mit dieser Miss Diamond ein Wörtchen zu reden und ihr zu erklären, dass die Malerei ein netter Zeitvertreib sein mag, aber sicher kein geeigneter Beruf ist für meine Tochter. Du hast zwei Möglichkeiten: Krankenschwester oder Hauswirtschafterin, wie dir deine Tante bereits vorgeschlagen hat, wenn ich richtig informiert bin.«
Niemand, das wusste Helen, diskutierte mit ihrem Vater. Erinnerungen an ihre Eltern in dem gemieteten Haus in Woking, die sich in gedämpftem Ton stritten, stiegen in ihr hoch. Diese Diskussionen endeten unweigerlich damit, dass ihre Mutter mit roten Augen aus der Küche oder dem Schlafzimmer lief, sodass ihr Anblick Helen beinahe das Herz zerriss, und sich im Bad einschloss, bis sie schließlich wieder mit unnatürlich fröhlichem Gesicht und zwitschernder Stimme herauskam.
»Wie gesagt, wir werden so bald wie möglich nach Borneo zurückkehren.«
Erst jetzt wurde Helen die Bedeutung dieses »wir« bewusst.
»Du meinst, du und Frank«, sagte sie, während sie sich fragte, warum sie absichtlich ausgeschlossen wurde.
Ihr Vater schien sich auf einen Punkt hinter ihr zu konzentrieren. »Und natürlich Edna.«
»Willst du auf Borneo nicht das alte Hausmädchen von früher nehmen?«, fragte Helen.
»Ah, gut, dass du es ansprichst.« Ihr Vater betrachtete seine Schuhe, die auf Hochglanz poliert waren. »Edna ist nicht mehr unsere Haushälterin, Helen. Sie ist nun meine Frau. Genau genommen ist sie deine neue Mutter.«
Das war alles ziemlich viel auf einmal. Vater hatte wieder geheiratet. Alle sagten, der Krieg würde bald aus sein. Roger war in einem deutschen Gefangenenlager – zumindest war ihnen das gesagt worden, obwohl viele Mädchen in der Schule Väter oder Brüder oder Cousins oder Onkel hatten, die im Gefangenenlager gestorben waren. Und sobald Helen ihre Prüfungen bestanden hatte, würde sie Krankenschwester werden.
Konnte man als Krankenschwester auch Künstlerin sein?
Irgendwie schafften sie es alle, fleißig für die Prüfungen zu lernen. »Mag sein, dass wir im Kieg sind«, wurde ihnen gesagt. »Aber das heißt nicht, dass die Prüfungen nicht stattfinden. Nach dem Krieg werdet ihr alle einen Schulabschluss brauchen. Die Rolle der Frauen verändert sich.«
Was genau das bedeutete, wusste Helen nicht. Aber nur wenige Wochen später stürmte eins der jüngeren Mädchen morgens in den Schlafsaal, noch bevor die Glocke für das Aufstehen läutete, und behauptete, einer der Gärtner habe ihr erzählt, dass der Krieg aus sei. Er habe es im Radio gehört.
Der Krieg war vorbei! Alle brachen in Jubel aus, und ein oder zwei Mädchen weinten, während ein drittes Mädchen ein anderes im Kreis herumwirbelte. Aber Helen verspürte nur den Wunsch, auf die höchstmögliche Stelle zu klettern, denn in den hohen Positionen saßen die Leute, die vielleicht etwas über Rogers Verbleib wussten. Ein kindischer Wunsch, das war ihr bewusst, aber irgendwie konnte sie nicht anders, als sich davon etwas zu versprechen.
Schon an ihrem ersten Tag im Internat hatte man sie gewarnt, dass der Zutritt zum Glockenturm verboten sei. Niemand durfte dort hinauf – es war
Weitere Kostenlose Bücher