Perlentöchter
dauern bis zu ihrer Abschlussprüfung. Der Krieg würde doch sicher bald zu Ende sein? Beim Metzger und im Radio wurde bereits davon gesprochen.
Eines Abends, kurz vor Helens Rückkehr ins Internat, wartete ihre Tante auf sie, ein Whiskyglas in der Hand. »Setz dich, Helena.« Sie hielt einen Brief in der Hand, und Helens Herz rutschte tiefer. Briefe bedeuteten normalerweise schlechte Nachrichten, obwohl es wenigstens kein Telegramm war. Eines der Mädchen im Internat hatte ein Telegramm erhalten und war weinend abgereist, ohne jemals wieder zurückzukommen.
»Kannst du mir sagen, warum du diesen Brief hier aufgeben willst? Ich habe ihn in deinem Zimmer gefunden.«
Helen blickte auf den Umschlag, der ihre eigene Handschrift trug. »Der ist für Roger«, sagte sie und errötete. »Warum fragst du?«
Die Stimme ihrer Tante war brüchig, wie das Glas mit dem winzigen Sprung, das sie in der Hand hielt. Er schlängelte sich in der Form einer Musiknote vom Glasrand abwärts. Hatte ihre Tante ihn nicht bemerkt? Mit leichter Bestürzung ertappte Helen sich dabei, dass sie sich wünschte, dass ihre Tante den Riss nicht wahrgenommen hatte und sich vielleicht daran schneiden würde.
»Roger gilt als vermisst, Helen. Und das nun schon seit sehr langer Zeit. Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Darum hat es keinen Sinn, dass du dein Geld für Briefmarken verschwendest, um einen Brief aufzugeben, der seinen Adressaten nie erreichen wird.«
Helen stand auf und spürte Wut, die in heißen, nassen Wellen ihre Augen überschwemmte. »Woher willst du das wissen?«
Die Lippen ihrer Tante wurden schmal. »Weil ich es weiß. Und noch etwas: Keine dummen Hirngespinste mehr wegen der Kunstschule. In unserer Familie gibt es so etwas nicht. Wenn dir mein Vorschlag, nach der Schule eine Hauswirtschaftslehre zu machen, nicht gefällt, dann steht dir nur noch ein Beruf offen, und das ist der einer Krankenschwester. Du hast die Wahl.«
Helen biss sich auf die Lippe. Sie hatte geahnt, dass es zu schön war, um wahr zu sein. Wie konnte sie annehmen, dass sie tatsächlich etwas durfte, was sie glücklich machte? Trotzdem, vielleicht hatte Phoebe ja recht. Vielleicht war Krankenschwester genau das Richtige für sie. Schließlich konnte sie so anderen Menschen helfen.
»Und noch etwas.« Ihre Tante hatte nun das Glas fast leergetrunken. »Ich habe Nachricht von deinem Vater. Er ist zurzeit hier auf Heimaturlaub. Er wird dich demnächst im Internat besuchen. Autsch.«
»Was hast du?«
Ein kleines Blutrinnsal tropfte vom Mund ihrer Tante. »Ich muss mich wohl geschnitten haben. Das Glas hat einen Sprung.«
Helen spürte Genugtuung, aber gleichzeitig auch Mitleid. »Kann ich helfen?«
»Es heißt: ›Kann ich bitte helfen?‹, Helen. Du kannst fast alles tun, was du willst, oder zumindest scheinst du das zu glauben. Aber wenn du höflich sein möchtest, dann fügst du ein ›bitte‹ hinzu. Meine Güte, hörst du in der Schule denn nie zu?«
An jenem Abend zeichnete Helen im Bett ein Porträt ihrer Tante, von deren Kinn Blut auf die Perlen tropfte. Anschließend, nur für den Fall, dass es jemand entdecken könnte, zerriss sie es in winzige Schnipsel, die sie aus dem Fenster flattern ließ, wo sie sich mit den weißen Blüten des Kirschbaums vermischten.
29
Manchmal konnte Helen sich nicht an das Aussehen ihrer Mutter erinnern. Sie besaß zwei Fotografien von ihr, die sie neben ihrem Bett in der dicken braunen Bibel mit Goldprägung aufbewahrte, die in den Ferien immer mitreiste in dem großen braunen Koffer mit ihren Initialen H.C.G.M. Wenn sie die beiden Aufnahmen betrachtete, schienen sie ein verschwommenes Bild der Mutter widerzuspiegeln, die sie einmal gekannt hatte, aber sie sahen ihr nicht wirklich ähnlich. Sie wirkte darauf irgendwie so kühl. So distanziert. So unnahbar.
Die Bilder, hatte man ihr gesagt, waren von einer Londoner Zeitung gemacht worden, als ihre Mutter aus Borneo nach England zurückgekehrt war. Diese ziemlich überraschende Information stammte von einer Freundin ihrer Mutter, die begonnen hatte, Helen während des letzten Schuljahres regelmäßig Briefe zu schicken. Diese Freundin, eine Frau namens Diana, schrieb, sie hätte sich schon früher gemeldet, aber ihr Arbeitgeber (ein Mr John Lewis) habe sie nach Portsmouth geschickt und sie habe Schwierigkeiten gehabt, Tante Phoebe zu erreichen, um Helens Adresse zu erfragen. Sie hoffe sehr, mit Helen in Verbindung zu bleiben, auch wenn sie vor kurzem ihren
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