Perlentöchter
mit einem halben linken Bein nach Hause geschickt worden, aber das war’s. Abgesehen davon hatte Clive eine ganz normale Kindheit, genau wie ihre Freundin Beth. Selbst Maggy schien aus stabilen Familienverhältnissen zu kommen, trotz des Umstands, dass sie ihre Mutter früh verloren hatte.
Stimmte es, fragte sich Helen, dass sie anders war? In der Schule hatte man ihr immer dieses Gefühl vermittelt, weshalb ihr das Malen so sehr geholfen hatte. Nun, während sie sich auf die Bettkante setzte in ihrem möblierten Apartment, das sie sich in ihrem letzten Ausbildungsjahr mit Maggy teilte, starrte sie auf ihren Malkasten, der so lange unberührt unter dem Bett gelegen hatte.
»Ich habe dich vernachlässigt«, murmelte sie und holte ihn hervor. Langsam klappte sie den Deckel hoch. Die bunten Quadrate weckten sofort Erinnerungen. An das leuchtende Orange der Sonnenuntergänge auf Borneo. An das dunkelblaue Kleid, das ihre Mutter früher trug. An ein düsteres Schwarz, das …
Sie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Clive war da! Rasch klappte sie den Deckel ihres Malkastens zu und schob ihn wieder unters Bett. Ein anderes Mal, sagte sie sich. Ein anderes Mal, wenn sie eher in der Stimmung dazu war.
Er wollte nicht, dass sie ihn am Bahnhof verabschiedete. Das würde ihn zu sehr mitnehmen, sagte er. Insgeheim fühlte Helen sich gekränkt, besonders da sie wusste, dass seine Familie da sein würde. Wollte er sie nicht seinen Eltern vorstellen? Schämte er sich für sie? Manchmal, wenn Helen in den Spiegel blickte, sah sie nur ein kräftiges Mädchen mit einem breiten Mund, das immer abwechselnd zwei Kleider trug, wenn es ausging, weil es sich keine neuen leisten konnte. Wie viele junge Frauen erkannte sie nicht die Qualitäten, die andere an ihr anziehend fanden. Den warmen, singsangähnlichen Klang ihrer Stimme. Ihre Fähigkeit, andere mit ihrem Lachen anzustecken. Ihr natürliches Auftreten, das so weit entfernt war von der einstudierten Künstlichkeit anderer Mädchen, die dazu erzogen waren, die Schwesternausbildung als Mittel zu betrachten, einen Ehemann zu finden.
»Ich werde dir schreiben.« Clive umfasste ihr Gesicht mit den Händen. Sie liebte es, wenn er das tat, genau wie sie es liebte, wenn er beim Küssen die Hand an ihren Hinterkopf legte.
»Ich dir auch.«
Sie wartete, dass er die Worte sagte, auf die sie schon das ganze letzte Jahr hoffte. Die »Willst du mich heiraten?«-Worte, die sicher spätestens jetzt hätten fallen sollen, wie selbst Maggy ihr später zustimmte, die ja nicht gerade für ihre Konventionalität bekannt war. Aber Clive umarmte sie nur kurz und wandte sich um, bevor er die Wohnungstür leise hinter sich zuzog. Helen saß eine Weile in völliger Stille da. Maggy war über das Wochenende weggefahren. Draußen auf der Straße konnte sie das geschäftige Londoner Treiben hören. Normalerweise hätte sie heute am Samstag Schicht gehabt auf der Station, aber sie wurde nicht gebraucht.
Langsam zog sie wieder den Malkasten unter dem Bett hervor, aber statt dem inneren Glühen wie früher fühlte sie nichts als Angst. Angenommen, sie hatte ihre Begabung verloren, wie Miss Diamond es genannt hatte? Angenommen, sie hatte nie eine gehabt? Es war besser, sagte sie sich, während sie den Kasten zurückschob, zu warten, bis der Zeitpunkt richtig war.
Wochen verstrichen und dann Monate. Helen und Maggy bestanden das Schwesternexamen und wurden zur Hebammenausbildung zugelassen. Clive schrieb Helen einigermaßen regelmäßig, aber seine Briefe hatten inzwischen einen etwas langweiligen Ton angenommen. Mit den Jungs habe er viel Spaß, aber trotzdem sei es hart. Die Verpflegung sei angemessen, aber er vermisse die Küche seiner Mutter. Und natürlich vermisse er Helen.
Aber seinen Briefen fehlte die Prise Leidenschaft, auf die sie gehofft hatte. Sie ließen ihr Herz nicht höher schlagen, wenn sie eintrafen. War es töricht von ihr gewesen, ihre Jungfräulichkeit einem Mann zu opfern, der, im Nachhinein betrachtet, vielleicht doch nicht der Richtige war?
»Ich habe dich gewarnt, Hellie«, sagte Maggy während ihrer Zigarette nach dem Frühstück. »Wer auch immer gesagt hat, die Liebe wachse mit der Entfernung, hatte keinen blassen Schimmer, wovon er redet. Es wird alles gut, wenn Clive zurückkommt, außer natürlich, du findest in der Zwischenzeit einen anderen.«
Einen anderen? Das konnte sie unmöglich tun. Außerdem hatte sie mit Clive geschlafen, also musste sie ihn nun auch
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