Perlentöchter
einem sagt, dass sie bald sterben wird? Caroline rief täglich an, bis es nichts mehr zu sagen gab. »Ich muss deine Stimme hören«, erwiderte sie, als ihre Mutter behutsam vorschlug, nicht mehr so oft zu telefonieren.
Sie besuchten sie jedes Wochenende, und zu jener Zeit saß ihre Mutter immer auf der Couch, im Morgenmantel, der ihren abgemagerten Körper verbarg – wie Caroline beim Blick in ihren Ausschnitt nur erahnen konnte. Scarlet zappelte auf ihrem Schoß, und in den Augen ihrer Mutter schimmerte Traurigkeit, weil sie nicht erleben würde, wie ihre Enkelin groß wurde.
Bald war sie nicht mehr in der Lage, auf der Couch zu sitzen, sondern konnte nur noch im Bett liegen, und ihre Haut färbte sich zunehmend gelb und spannte sich über den Wangen. »Du siehst genauso aus wie deine Mutter«, flüsterte Caroline und blickte auf das Foto von Rose, das immer auf der Frisierkommode ihrer Mutter stand.
Die Schmerzen wurden schlimmer, und der Arzt verschrieb Heroin.
»Ich gehe das Rezept holen«, bot Caroline ihr eines Morgens an, da Peter verhindert war.
»Nein!«, brüllte ihre Mutter vom Bett aus. »Jemand könnte dir auflauern. Du hast keine Ahnung, wozu manche Leute da draußen fähig sind, um an diese Droge zu kommen.«
Zitternd ging Caroline die Treppe hinunter. Peter saß auf dem unteren Treppenabsatz, den Kopf in die Hände gestützt. »Das sind die Drogen«, sagte er. »Sie lassen sie Sachen sagen, die sie nicht meint.«
Also ging sie wieder nach oben. Sie setzte sich zu ihr aufs Bett und hörte draußen im Garten Scarlet schreien, wo Simon mit ihr umherschlenderte, um Caroline Zeit mit ihrer Mutter zu geben. Gleich darauf hielt ein Wagen vor dem Haus, was bedeutete, dass Grace gekommen war.
»Keine Angst, Mummy«, sagte sie und umarmte die schmale Gestalt. »Wir sind alle hier.«
Sie hatte es als Trost gemeint, aber kaum waren die Worte aus ihrem Mund, begann ihre Mutter zu schreien und zu zittern. »Peter!«, rief sie. »Peter!«
Zu spät erkannte Caroline, dass sie ihrer Mutter Angst gemacht hatte, aber als sie versuchte zurückzurudern, lag ihre Mutter bereits in Peters Armen. Er sprach ein Gebet. Das Vaterunser. »Vater unser im Himmel …«
Hier gab es keinen Platz für sie. Langsam ging sie wieder die Treppe hinunter und stützte sich auf das einfache weiße Geländer, um Kraft zu tanken.
Am nächsten Morgen, kurz bevor sie in den Wagen steigen und zu ihrer Mutter fahren wollte, kam der Anruf. Ihre Mutter war vor einer Stunde gestorben. Ungläubig packte sie Scarlet in die Tragetasche und raste los.
»Er hat sie weggeschafft«, sagte sie, zu müde für weitere Tränen.
Petunia runzelte die Stirn.
»Was meinen Sie damit?«
Caroline wiederholte, was sie bereits Diana erklärt hatte. »Er hat veranlasst, dass ihr Leichnam innerhalb von einer Stunde abgeholt wurde. Ich durfte sie erst zwei Tage später sehen, als der Bestatter sie hergerichtet hatte.« Sie zitterte nun am ganzen Körper, obwohl die Wärme in ihrem Rücken wieder sehr stark war. »Und dann sah sie ganz anders aus, gar nicht mehr wie sie selbst, sondern eher wie eine cremefarbene Wachsfigur mit einem langen, schweren Kinn, das nicht zu ihr passte.«
Aus ihrer Brust entlud sich laut die Trauer. »Es war meine Schuld, verstehen Sie? Ich habe ihr zum Schluss eine Höllenangst eingejagt, als ich ihr gesagt habe, dass jetzt alle hier sind. Sie wusste, dass das Ende naht, und sie hatte Panik davor.«
»Schsch«, machte Petunia sanft, und die Wärme wurde stärker und stärker, bis der Schmerz plötzlich ganz leicht wurde und davonschwebte, sodass ihre Schultern sich merkwürdig schwerelos anfühlten.
45
Wie lange war sie schon hier bei Petunia? Es fühlte sich an wie Tage, Wochen sogar. Aber laut der Uhr waren erst zwei Stunden vergangen. Und es gab noch mehr.
»Nach ihrem Tod kam ich mir vor, als wäre ich nun an der Spitze des Baums. Ich musste die Leute verständigen. Meinen Vater. Es war so seltsam, diejenige zu sein, die ihm sagte, dass seine Exfrau tot war. Wissen Sie, selbst Sandra hat geweint, obwohl sie und Mummy sich ein Leben lang bekriegt haben. Ich war nun das Oberhaupt der Familie, ich musste sie zusammenhalten für meine Schwester, weil sie nicht darüber reden wollte, nicht ihren Kummer teilen wollte.«
»Verständlich.«
»Sie ist manchmal unmöglich, aber sie war erst zwanzig, als Mummy starb. Ich bin für sie verantwortlich.«
»Sie sind auch für sich selbst verantwortlich.«
»Ich finde nur Ruhe,
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