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Perlentöchter

Perlentöchter

Titel: Perlentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Corry
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geschwommen wäre.
    »Braves Mädchen.« Ga Ga nickte anerkennend. »Die meisten Mädchen in deinem Alter würden nur einen Riss in der Wand sehen.« Wieder ein anerkennendes Nicken. »Du hast das Auge.«
    Jedes Mal, wenn Ga Ga das sagte, spürte Rose einen Schauer über ihren Rücken rieseln, als würde sie jemand mit dem Staubwedel kitzeln, den die Hausmädchen für den Kaminsims benutzten. Das Auge! Rose hatte genug mitbekommen in den Sitzungen bei Ga Ga, um zu wissen, dass das Auge für jeden Maler eine wichtige Voraussetzung war. Sogar noch wichtiger als ein Pinsel oder eine Staffelei oder ein steifes Blatt Pappe. Das Auge konnte man nicht kaufen. Es wurde weitervererbt, so wie Papa das Haus von seinem Vater geerbt hatte und dieser zuvor von seinem.
    Aber woher wusste man, ob man das Auge geerbt hatte oder nicht? »Du musst einfach abwarten«, sagte Ga Ga immer. Aber wie lange? »Ich habe es dir schon gesagt«, erklärte Ga Ga. »Bis zu deinem nächsten Geburtstag. Das ist nicht mehr lange.«
    Hatte er ihr das wirklich schon gesagt? Falls ja, hatte sie es vergessen, aber sie würde doch sicher niemals etwas derart Wichtiges vergessen. Was würde denn an ihrem zehnten Geburtstag passieren? Würde Ga Ga ihr ein Auge auf einem Teller schenken, so wie der Koch einen Teller pochierte Eier für Mama auf einem Tablett hochschickte, das hinterher mit einem Telegramm und einer Silbermünze für das Dienstmädchen zurückkam, das daraufhin damit das Haus mit unbekanntem Ziel verließ? Sie hoffte nicht.
    In diesem Moment klopfte es an der Tür. Rose stieß ein erleichtertes Seufzen aus, als Ga Ga seine Arbeit kurz unterbrach, die dichten grauen Augenbrauen verärgert zusammengezogen. So sehr sie diese Haltungsstudien liebte, wie ihr Großvater es nannte, benötigte sie dennoch mehr Pausen, als er ihr zugestand. »Ja?«, sagte er knurrend zu dem Dienstmädchen.
    Rose versuchte, nicht zu lachen. Ga Gas Knurren klang immer sehr grimmig, aber sie wusste, in Wirklichkeit war es harmlos. Letzteres war ein neues Wort, das sie erst vor kurzem im Unterricht gelernt hatte und dessen Geschmack sie gerne auf der Zunge spürte.
    »Sir William Giles«, begann das Dienstmädchen.
    »Verdammt! Kann der Mann mich nicht in Frieden lassen? Fort mit dir!«
    Rose brauchte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass ihr Großvater sie meinte und nicht das Mädchen, oder vielleicht auch beide. »Du hast mich verstanden, Rose. Ab, geh nach Hause zu deiner Mutter und deiner kleinen Schwester.«
    Die Aussicht, bis zum Nachmittagsunterricht zu der kleinen Grace ins Kinderzimmer zurückzukehren, ließ Rose mit dem Gedanken spielen, sich oben in Ga Gas Haus zu verstecken, wie sie das neulich schon getan hatte. »Und wehe, du versteckst dich!« Ga Gas Brauen machten den Eindruck, als würden sie gleich in der weißen Haarmähne darüber landen, während er hektisch das breiige Durcheinander auf dem Tablett sortierte und anschließend begann, die Bilder, die an der Wand lehnten, ordentlicher zu arrangieren. »Wir sehen uns morgen, um das Porträt zu vollenden.«
    Unter dem Vorwand, ihre Stola von der Chaiselongue am Fenster zu holen, spähte Rose verstohlen auf die Staffelei und hätte fast aufgeschrien. Es war, als würde sie in einen Handspiegel blicken. Dies waren ihre Augen, die zu dem Schiff hinausschauten – mit dieser Mischung aus Begeisterung und Ungeduld, die sie selbst sehen konnte und mit der sie ihrer lieben Gouvernante manchmal auf die Nerven ging. Und auch ihre Haare mit dem Rotstich, den sie von Ga Gas geliebter Frau geerbt hatte, die nun auf dem Friedhof auf der anderen Seite von Hampstead wohnte. Und dieses alberne weiße Kleid, das sie wegen der Sitzungen nicht schmutzig machen durfte.
    »Sofort!«
    Im Kielwasser des Dienstmädchens, das angewiesen worden war, sie nach Hause zu bringen, schob Ga Ga sie fast zur Tür hinaus. Aber unter dem Vorwand, sich ihren Schuh binden zu müssen, bückte sie sich in der Diele und drehte gerade rechtzeitig den Kopf, als die Gestalt in dem schwarzen Umhang von der Bibliothek zum Atelier ihres Großvaters geführt wurde.
    Rose hielt den Atem an, als die Gestalt ihr das Gesicht zuwandte. Sir William Giles war ein alter Mann! Sogar noch älter als Ga Ga! Seine Augen sahen aus, als wären sie in die weichen, sackartigen Hautfalten eingesunken, und er stützte sich, genau wie der Zauberer in einem ihrer Bücher, auf einen langen schwarzen Stock mit einem geschnitzten cremefarbenen Griff. Vielleicht

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