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Perlentöchter

Perlentöchter

Titel: Perlentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Corry
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befürchtete er, mit den Füßen in den Ritzen zwischen den Holzdielen hängen zu bleiben, etwas, wovor sie auch Angst hatte.
    »Das Mädchen in dem weißen Kleid«, sagte er, als habe sie gerade etwas Geistreiches von sich gegeben, während sie tatsächlich zu viel Ehrfurcht hatte, um den Mund aufzumachen und eine der Nettigkeiten zu äußern, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, bevor sie ihre Sprache verlor. »Das Mädchen in dem weißen Kleid«, wiederholte er.
    »Ich bin nicht nur ein Modell.« Ihre Stimme schallte deutlich durch die Diele, was sie selbst überraschte. »Ga Ga hat gesagt, ich habe das Auge.«
    Ein tiefes, kehliges Lachen ertönte. »Das Auge? Du hast es also? Das wäre gut. Sehr gut. Wir müssen auf dich achtgeben.«
    Und damit wandte er sich auf seinem Stock um wie ein klappriges altes Spielzeug, um das sie sich mit ihrer jüngeren Schwester Grace im Kinderzimmer gestritten hatte, und humpelte weiter zum Atelier.
    Das Hausmädchen schüttelte missbilligend den Kopf. »Sie bringen uns beide in Schwierigkeiten, oh ja, Miss.«
    Aber Rose kümmerte das nicht. Sie hatte mit dem großen Sir William Giles gesprochen! Mit dem Mann, der Ga Ga das Malen beigebracht hatte. Vielleicht würde er ihr auch das Malen beibringen.
    Dies, so erklärte Rose ihrer Borneo-Zuhörerschaft, die gewöhnlich inzwischen gebannt lauschte, da Sir William Giles sich einen Namen gemacht hatte, sei ihre erste Erinnerung. Aber es war eine Lüge. Ihre erste Erinnerung war eine, die sie mit niemandem teilen konnte. Eine Erinnerung, die sie sich gezwungen hatte zu vergessen und so tief zu schwärzen wie die Farbe des Umhangs, den der alte Mann trug.
    Das Beste am Vormittag, dachte Rose, während sie im Schulzimmer saß und auf ihre Mitschülerin wartete, waren die Unterrichtsstunden. Miss Hollingswood besaß die wunderbare Fähigkeit, den Globus zum Singen zu bringen, wenn er sich um seine Achse drehte. Er sang ein stummes Lied, das nur Rose hören konnte. Als sie das einmal vor ihrer Lehrerin unbeabsichtigt äußerte, hatte Miss Hollingswood begeistert genickt und erwidert, sie wisse genau, was Rose meine. »Er singt ein Abenteuerlied«, hatte sie ihrer Schülerin erklärt, und danach war der Tonfall ihrer Stimme etwas weicher geworden, wenn Rose mit diesen schrecklichen Zahlenreihen nicht zurechtkam, die im Gegensatz zu dem cremigen Geschmack des Globus in ihrem Mund wie Innereien schmeckten.
    Das Schlimmste am Vormittag war ihre Mitschülerin. Warum hörte Papa nicht auf sie, wenn sie ihm immer wieder erklärte, dass Lydia so ziemlich das dümmste Mädchen sei, das ihr je begegnet war, weil sie sich nur dafür interessierte, ob ihre Locken fest genug waren oder ob ihr Rocksaum morgens auf dem kurzen Weg von ihrem Haus zu Rose Schmutz abbekommen hatte.
    »Ihre Mutter ist eine Freundin von Mama«, war alles, was Papa dazu sagte, wenn sie ihn darauf ansprach. Und dann begann er, an seinem Schnurrbart zu zwirbeln. Wie Rose beobachtet hatte, tat er das öfter um eine Diskussion zu beenden. Aber es stimmte nicht. Lydias Mutter, die Papa Aveline nannte, war KEINE Freundin ihrer Mama. Jedenfalls keine richtige. Sie kam zwar recht häufig zu Besuch, aber wenn Mama sich vorbereitete, um sie im Frühstückszimmer zu empfangen, verdrehte sie immer die Augen und produzierte einen seltsamen Laut in der Kehle, den sie auch dann von sich gab, wenn abends das Klacken der Eingangstür Papas Rückkehr von seinen Patientenbesuchen ankündigte.
    Offen gestanden, dachte Rose und ließ den Globus kreisen, während sie auf Lydia wartete, konnte sie verstehen, warum Mama für ihre Besucherin anscheinend wenig Begeisterung aufbrachte. Wenn Rose erwachsen war, würde sie sich Freundinnen suchen, die so dachten wie sie. Und keine albernen Frauen, die ständig kicherten und sich Luft zufächerten, auch wenn es gar nicht heiß war. »Du musst nett zu Lydia sein«, sagte Mama einmal. »Sie hat keine Geschwister wie du.«
    Rose konnte sich nicht vorstellen, keine Schwester zu haben. Grace durfte zwar noch nicht am Unterricht teilnehmen, aber nach Papas Ansicht war sie erstaunlich weit für eine Siebenjährige. Insgeheim kannte Rose den Grund dafür. Sie brachte ihrer kleinen Schwester (die das genaue Ebenbild von ihr war, wie jeder sagte, der sie zusammen sah, obwohl Grace längere Haare hatte und vollere Lippen) nach Einbruch der Dunkelheit das Alphabet bei, wenn sie beide zu Bett geschickt wurden. So, dachte Rose, würde Grace schneller groß werden und

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