Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
sinnliche Nuancen, und nach drei Stunden hatte er eine englische Fassung des Teils, den er gestern direkt ins Italienische übersetzt hatte, mit zahlreichen Fehlern, wie ihm jetzt klar wurde. Gleich danach kam die bemühte, peinliche Passage zu Proust. Die letzten anderthalb Seiten zu diesem Thema waren vom Wortschatz her wieder leichter; dafür war die abschließende Argumentation derart lückenhaft und abenteuerlich, daß er immer von neuem prüfte, ob es vielleicht an der Übersetzung lag. Schließlich kam er zu dem Ergebnis, daß Leskov einfach gepfuscht hatte – er hatte seine exotische These von der Vergangenheit als Erfindung um jeden Preis durchpauken wollen, anscheinend war er richtiggehend verliebt in sie.
Kurz nach Mitternacht ging Perlmann durch die sternklare, kalte Nacht zur Piazza Veneto, um Zigaretten zu holen. Jetzt kam das Schlußstück über Aneignung, neun Seiten, von denen er sieben weitgehend fertig hatte, wenn man von den Schwierigkeiten mit dem Schlüsselbegriff selbst absah. Er wollte in dieser Nacht fertig werden, um morgen nachmittag die Umrisse seines eigenen Beitrags festlegen zu können, so daß er den Text am Mittwoch in einem Ritt durchschreiben konnte. Zugleich spürte er eine erstickende Beklemmung bei dem Gedanken, Leskovs Text beiseite legen zu müssen und ganz allein der Leere in seinem Kopf ausgeliefert zu sein. Er riß die Packung auf, kaum war sie aus dem Automaten gefallen, und stellte dann fest, daß er kein Feuer mithatte. Fröstelnd rannte er zum Hotel zurück.
Zuerst nahm er die beiden letzten Seiten in Angriff, für die er noch überhaupt keine englische Version hatte. Hier sprach Leskov zusammenfassend vom Schaffen individueller Vergangenheit durch Erzählen. Und wieder mogelte er sich an einer eindeutigen Position vorbei, indem er ohne Kommentar zwischen ganz unterschiedlichen Wörtern für schaffen hin und her sprang. Er begann mit sozdavat’ und wechselte dann ohne jeden Kommentar zu tvorit’. Beide waren im großen Wörterbuch mit creating angegeben. Das zweite Wort galt, nach den Beispielssätzen zu schließen, für das Schaffen von etwas aus dem Nichts, es wurde gebraucht, wenn von Gottes Schöpfung die Rede war. Beim ersten ging es eher um künstlerisches oder wissenschaftliches Schaffen, also um schöpferische Tätigkeit wie etwa das Schaffen einer Romanfigur. Ein Riesenunterschied, dachte Perlmann, über den Leskov kein Wort verlor. Oder kam das nur dem Anfänger so vor, als der er sich plötzlich wieder fühlte?
Dann kam auf einmal izobretat’, das als inventing, devising und designing angegeben war, also von Erfindungen handelte, jetzt aber im Sinne der Herstellung eines neuen Gegenstandes – einer Maschine etwa – aus durchaus realen Materialien. Seine Vergangenheit durch Erzählen auf bestimmte Weise zuschneiden und sich dadurch als Figur gewissermaßen skulpturieren – da war viel dran. Doch das war eben etwas ganz anderes als der Gedanke, daß man sich im erinnernden Erzählen regelrecht erfand oder gar erschuf. Aber am liebsten hätte Leskov, das spürte Perlmann durch alle sprachlichen Zweifel hindurch, die extreme These vom Erfinden vertreten, und einmal kam denn auch pridumat’, das mit thinking up übersetzt wurde – wie wenn man sich beispielsweise eine Entschuldigung ausdachte.
Der letzte Satz des Texts. Er las sich auf englisch weniger bombastisch als auf deutsch, was vor allem daran lag, daß essence einen leichteren, transparenteren Klang hatte als das raunende Wesen und – vermutete Perlmann – als das russische suščnost’. Und daß es für Sprache wesentlich sei, daß sie die Erfahrung von Zeit vielfältiger mache – das war eine Behauptung, die sich mit manchem deckte, was in seinen eigenen Aufzeichnungen stand.
Perlmann holte das schwarze Wachstuchheft aus dem Handkoffer und ärgerte sich, daß beim Öffnen der blödsinnig fest angezogenen Riemen ein Fingernagel einriß. Er las noch einmal, was er selbst über das Formulieren von Erinnerungen notiert hatte, und dann die Passagen über Sprache und Gegenwart. An einigen Stellen war die Parallele zu Leskovs Gedankengängen verblüffend. Er tat das Heft zurück in den Handkoffer und ließ die Riemen locker.
Draußen herrschte jetzt dichter Nebel, die Laternen unten auf der Terrasse waren nur noch als diffuse Lichtstrudel zu erkennen, in denen herantreibende Schwaden verschwanden. Warum nur hatte es ihn gedrängt, seine Aufzeichnungen durch eine andere Sprache zu verfremden?
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