Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
hatten.
«Heute habe ich wieder einmal gemerkt, wie genau Sie lesen», sagte von Levetzov plötzlich zu ihm.
Perlmann ließ das Eis auf der Zunge zergehen und schluckte es in kleinen Portionen. Er hatte es abstoßend gefunden, wie die Mutter damals, nach seiner Mandeloperation, die Rolle der Krankenschwester genossen hatte.
«Dabei konnte man gestern den Eindruck haben, daß er die ganze Sache haßt», gluckste Ruge und leckte sich ungeniert die Sahne von der Oberlippe.
Perlmann dachte an das enge Kinderzimmer mit der geblümten Tapete und brachte ein unbestimmtes Lächeln zustande.
«Übrigens wurde am Sonntag in unserer Kirche tatsächlich wieder geheiratet», sagte Evelyn Mistral, als sie nachher zusammen die Treppe hinaufgingen.«Dieses Mal war ich drin. Ein ungewöhnlicher Innenraum. Lauter Ketten mit bunten Lichtern. Es hat etwas Märchenhaftes. Wollen wir am Sonntag hingehen? Jetzt, wo du mit deinem Text fertig bist?»
Perlmann sagte nichts.
«Na ja, wir werden sehen», fuhr sie fort und berührte ihn am Arm.«Du siehst aus, als hättest du die letzten Tage ununterbrochen gearbeitet. Schlaf dich aus! »
Sie war schon in ihren Korridor eingebogen, da kam sie noch einmal zurück.«Maria hat heute nachmittag ein Exemplar meines Texts für dich ausgedruckt. Es ist in deinem Fach. Würdest du mir sagen, was du davon hältst? Vor allem von der Sache, über die wir neulich im Cafe gesprochen haben. »
«Ja... natürlich», sagte Perlmann und machte auf der Treppe kehrt.
Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er seit Tagen nicht mehr nach dem Fach gesehen hatte. Giovanni reichte ihm einen dicken Stoß von Dingen. Auch Laura Sands Texte für Donnerstag waren dabei und zwei Umschläge von Frau Hartwig.
«Viel zu lesen!»»grinste Giovanni, der in einer Illustrierten geblättert hatte. Perlmann ging wortlos zum Aufzug.
Kaum hatte er die Papiere auf den Schreibtisch getan, klingelte das Telefon.
«Stell dir vor, es hat funktioniert!»sagte Kirsten.«Zunächst runzelte Lasker zwar die Stirn und fummelte noch öfter als sonst an seiner Fliege herum. Ein Glück, daß Martin dabei war. Doch als ich dann eine dieser Einheitsthesen nach der anderen zerpflückte, bekam der Alte einen aufmerksamen Blick und blätterte im Text. Ich geriet richtig in Fahrt und wurde immer frecher. Selbst die Behauptung, daß Elemente der einen Geschichte in der jeweils anderen ein Echo fänden, habe ich angegriffen. Und schließlich habe ich, obwohl das gar nicht in meinen Notizen stand, noch ausgeführt, daß die Romantik in beiden Geschichten von ganz unterschiedlicher Art ist. Da bin ich zwar etwas ins Stocken geraten. Aber am Ende war langes Klopfen, und dann sagte Lasker in seinem griesgrämigen Ton: Unglaublich: Fräulein Perlmann! Er ist weit und breit der einzige, der sich so etwas noch leisten kann. Aber der Kommentar, das habe ich inzwischen erfahren, war ein Riesenlob aus seinem Mund. Stell dir vor: der große Lasker! Papa, ich bin ganz high! »
Sie redete wie ein Wasserfall, und erst gegen Ende konnte er sich darauf besinnen, daß das Referat über Faulkners The Wild Palms gegangen war.
«Freust du dich denn gar nicht?»fragte sie, als er nicht gleich etwas sagte.
«Doch, doch, natürlich freue ich mich über deinen Erfolg», sagte er hölzern, und noch bevor er den Satz vollendet hatte, überfiel ihn eine sonderbare Panik: Zum erstenmal in seinem Leben fand er nicht den richtigen Ton mit seiner Tochter.
«Das klang aber förmlich», meinte sie unsicher.
«War nicht so gemeint», erwiderte er und verfluchte seine Verkrampfung.
Sie gab sich hörbar einen Ruck und fand wieder in den fröhlichen Ton zurück.«Wann bist du mit deinem Referat dran? Ich meine: mit deinem Vortrag?»
«Mitte nächster Woche. »
«Wann genau?»
«Donnerstag. »
«Wie lange dauern eigentlich eure Sitzungen?»
«Drei, vier Stunden. »
«Ach Gott, das ist ja doppelt so lange wie eine Seminarsitzung. Und du mußt die ganze Zeit reden?»
«Na ja...», sagte er so leise, daß sie es nicht verstand.
«Was sagst du?»
«Nichts. »
«Papa?»
«Ja?»
«Hast du etwas? Du klingst so weit weg. »
«Nichts. Es ist nichts, Kitty.»
«Das hast du schon lange nicht mehr zu mir gesagt.»
Perlmann spürte, wie sein Gesicht zerfiel.«Schlaf gut», sagte er schnell und legte auf. Dann vergrub er den Kopf im Kissen. Erst nach fast einer Stunde zog er sich aus und löschte das Licht.
Morgen.
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