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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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die zusammengebackenen Papierstöße den anderen nicht an den Kopf warf und auch die Stirn nicht auf die Tischplatte schlug, kam ihm nachher wie ein Wunder vor. Irgend etwas griff im allerletzten Augenblick sanft ein, so daß er, äußerlich ungerührt, einen der Texte mit leisem, elektrischem Knistern auseinanderriß und begann, Zeichen an den Rand zu machen.
    Doch die rettende Sanftheit war nur Tünche. In der nächsten Diskussionspause ergriff Perlmann das Wort, und was er nun fast eine halbe Stunde lang in ein betretenes, bleiernes Schweigen hinein vortrug, war eine vehemente, erbarmungslose Abrechnung mit der ganzen Art von Sprachwissenschaft, für die von Levetzov stand, und nicht nur er.
    Nach den ersten, zögernden Sätzen, bei denen er sich mehrfach räuspern mußte, sprach er mit einer ihn verblüffenden Ruhe und Flüssigkeit, die sich von Minute zu Minute gleichsam selbst verstärkten, und die Pausen, in denen er an der Zigarette zog, unterstrichen noch, dachte er, die Festigkeit seiner Überzeugung. Er sah während des Sprechens niemanden an, sondern hielt den Blick auf das rötliche, glänzende Holz des Konferenztisches gerichtet, nachdem er gleich zu Beginn sein Spiegelbild mit einem Blatt Papier verscheucht hatte.
    Er hatte keine Ahnung, woher das alles kam, was er da sagte. Er hatte es noch nie in der Form ausdrücklicher, erinnerbarer Gedanken gedacht, und doch kam es ihm vertraut und selbstverständlich vor wie eine Überzeugung, die man ein halbes Leben lang mit sich herumgetragen hat. Er war in diesem Moment grimmig entschlossen, sich dem erstaunlichen Prozeß, der da in Gang gekommen war, zu überlassen, solange er anhalten würde, mochte die Reaktion der anderen ausfallen wie sie wollte. Einmal verlor er fast den Faden, weil ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, daß dies ein seltener Moment der Gegenwart sein könnte – einer Gegenwart freilich, die das Sonderbare an sich hatte, daß sie nicht von außen, von der Welt her auf ihn zukam, sondern ganz von innen heraus gesetzt wurde, so daß der Eindruck entstand, als sei die Zeit insgesamt gar nicht etwas, was draußen seinen unabhängigen Fortgang nahm, sondern etwas Innerliches, ein Aspekt seiner selbst, der sich, je nachdem wieviel Freiheit er ihm ließ, in reicher oder karger Form in die Welt hinein entfaltete. Perlmann wurde schwindlig bei dieser Vorstellung, er verhedderte und wiederholte sich, und erst als er alle mitlaufenden Gedanken an die Zeit wütend zerquetscht hatte, fand er wieder in den vorherigen Fluß der Rede zurück.
    In das, was er sagte, griff er danach nur noch dadurch steuernd ein, daß er seine Kritik ausdrücklich und mit selbstmörderischer Schärfe auch auf die eigenen Arbeiten bezog. Er wollte damit den, wie er spürte, unvermeidlichen Eindruck mildern, daß er eine persönliche Attacke gegen von Levetzov ritt. Dabei hatten seine Worte innerlich längst nichts mehr mit von Levetzov zu tun, sondern waren gegen Brian Millar gerichtet, dessen Namen er jedoch nicht ein einziges Mal in den Mund nahm. Während er sich, blind auf das Mahagoni starrend, Millars Gesicht vorstellte, wurden seine Sätze immer schneidender, die Wortwahl immer unkontrollierter bis hin zum Ordinären. An den Rändern seines Gesichtsfeldes fing die Welt an zu verblassen und einzutrüben, so daß er seine vernichtenden Zensuren in einen rötlich glänzenden Tunnel hineinsprach, aus dem ihm, als kämen sie gleichzeitig von innen und von außen, der Satz des Vaters über Mestre und sein eigener Satz über das Neinsagen entgegenkamen. Bestürzt spürte er, daß die Dinge in ihm heillos durcheinandergerieten, aber es gab kein Halten, er redete und redete, die Luft mit der Handfläche durchschneidend wie mit einem Fleischerbeil, bis daß die Energie seiner verzweifelten Selbstbehauptung schließlich in einem Gefühl der Erschöpfung versiegte.
    Für eine Weile sprach niemand ein Wort. Aus dem Salon waren Stimmen zu hören, und von draußen kam das Stottern eines Bootsmotors, der nicht recht anspringen wollte. Aus den Augenwinkeln sah Perlmann beklommen, wie Laura Sand an den Figuren in ihrem Notizbuch Einzelheiten ergänzte.
    Der erste Blick, dem er begegnete, war derjenige Silvestris. Es war ein Blick von ruhiger, trauriger Wachheit, ein Blick, wie er ihn einem verwirrten oder weinenden Patienten entgegenbringen mochte, frei von beruflicher Herablassung, angefüllt mit dem nach innen gewandten Schatten der Solidarität, und doch auch ein Blick, hinter

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