Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
verschwitzt erwachte. Er wäre am liebsten ewig unter der Dusche geblieben und drehte sie immer von neuem auf, damit das Wasser ihm übers Gesicht lief und den Blick in die Zukunft verstellte. Schließlich saß er im Bademantel am runden Tisch und ließ den Blick über die Blätter der Übersetzung gleiten. Er hatte vergessen gehabt, daß es auf den ersten dreißig Seiten eine ganze Reihe von Lücken gab. Zufrieden stellte er fest, daß die Arbeit an den späteren Teilen die offenen Fragen jetzt ganz simpel aussehen ließ. Schließlich strich er noch die Randbemerkung Sinnlicher Gehalt? aus und sorgte dafür, daß man sie nicht mehr entziffern konnte.
Nur der Titel fehlte noch. Formirovanie war formation. Also: ON THE ROLE OF LANGUAGE IN THE FORMATION OF MEMORIES. Perlmann zögerte, schlug im deutsch-englischen Langenscheidt Rolle nach und ersetzte dann role durch part. Das Ganze klang hölzern, fand er, und zudem war formation eigentlich der Sache nach zu schwach, wenn man sich die radikalen Thesen des Texts vor Augen hielt. Hatte Leskov Angst vor der eigenen Courage bekommen? Schlug man formation nach, so kamen formirovanie und obrazovanie mit dem Vermerk (creation). Trotzdem: Creation war eindeutig sozdanie oder tvorenie; das waren die Wörter, die Leskov schon hier hätte heranziehen sollen. In dem verschachtelten programmatischen Satz, der so viel Mühe gemacht hatte, stand ja schließlich auch sozdavat’. Perlmann saß eine Weile regungslos da. Dann schrieb er in Blockbuchstaben ganz oben an den Rand: THE PERSONAL FAST AS LINGUISTIC CREATION. Für den Namen war kein Platz mehr.
Um die Scharte von gestern weiter auszuwetzen, machte er sich auf den Weg zum Speisesaal. Maria saß noch im Büro vor dem Bildschirm. Als Perlmann sie sah, blieb er stehen, wippte ein paarmal auf den Absätzen und ging dann noch einmal hinauf ins Zimmer. Unschlüssig hielt er die Übersetzung in den Händen, rollte sie halb ein und öffnete den Stapel dann wieder. Schließlich nahm er sie mit sich.
In der Halle standen jetzt die anderen zusammen. Er winkte ihnen mit dem Text zu und betrat Marias Büro.
«Ich dachte, Sie wollten mir den Text erst Freitag morgen geben», sagte Maria.
«Eh... das ist... das ist er auch noch gar nicht», stotterte Perlmann und spürte, wie sein Gesicht brannte.
«Ach so, das ist noch ein anderer», meinte sie.«Was ihr doch alle fleißig seid!»Sie blätterte und hielt dann plötzlich inne.«Da sind ja ein paar italienische Zeilen! Warum haben Sie die durchgestrichen?»
«Es... es war nur so ein Versuch», sagte er schnell und machte eine wegwerfende Geste.
«Bis wann brauchen Sie den Text?»fragte sie, als er sich zur Tür wandte.«Wegen Signor Millar, meine ich.»
«Es ist nicht eilig. »
Sie heftete den Text mit einer großen Klammer zusammen und hielt ihn von sich weg.«Hübscher Titel», lächelte sie.«Wo wollen Sie den Namen? Über dem Titel, darunter, oder erst am Textende?»
«Keinen Namen, bitte.»Das per favore war fehl am Platz; es war nicht nur überflüssig, sondern klang in seinen Ohren verdächtig.«Der Text ist nur für mich selbst», fügte er steif hinzu.
Sie wiegte den Kopf, als wolle sie sagen, sie fände das keinen guten Grund. «Va bene. Wie Sie wollen. Einfügen kann man ihn ja immer noch. – Und wie ist es mit dem anderen Text?»fragte sie, als er schon die Klinke in der Hand hatte.«Bleibt es da bei Freitag morgen?»
«Ja», sagte er, ohne sie anzublicken.
«Übrigens, Phil», sagte Millar, als Perlmann den Löffel in die Suppe tauchte,«wegen Maria: Sie sagte, sie hätte bis Donnerstag Zeit, für mich zu schreiben. Aber ich habe das für ein Mißverständnis gehalten. Ihren Text hätte sie ja kaum in zwei Tagen schreiben können. Und eben habe ich gesehen, wie Sie ihr den Text brachten. Kein Problem. Dann wird eben Jenny ran müssen, sobald ich zurück bin.»
Die Suppe verbrannte Perlmann Zunge und Kehle.«Eh... nein, nein, Sie können...», begann er und schloß dann die Augen, bis der Gipfel des Brennens überschritten war. Er hustete und wischte sich das Wasser aus den Augen.«Ich meine... ja, vielen Dank. »
Millar sah ihn nachdenklich an. «You okay?» Perlmann nickte und mußte sich noch einmal über die Augen fahren.
Er war froh, daß ihm nachher jeder Bissen beim Schlucken weh tat. Der Schmerz war etwas, womit er sich beschäftigen konnte, während die anderen eine Reihe von Kollegen durchhechelten, die in letzter Zeit kaum etwas veröffentlicht
Weitere Kostenlose Bücher