Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Kann man Angst davor haben, sich selbst zu nahe zu treten? Oder war eine andere Angst am Werk gewesen: daß Artikulation in der Muttersprache, und nur in ihr, das Erleben verändern könnte, so daß die alte Erlebnisweise, die man nicht verlieren mochte, mit einemmal verschwände?
Wie auch immer: Auf englisch konnte er seine Beobachtungen lesen, als habe ein anderer sie geschrieben, einer, der geistesverwandt war, aber doch verschieden von ihm. Er öffnete das Fenster und spürte die kühle Nachtluft wie feuchte Watte auf dem Gesicht. Auch in fremden Sprachen konnte man sich geborgen fühlen wie im Nebel. Kein Angriff, der in einer anderen Sprache vorgetragen wurde, könnte ihn jemals so treffen, könnte so ganz zu ihm durchdringen wie ein Angriff in der Muttersprache. Und auch die eigenen, intimsten Sätze trafen ihn weniger, wenn sie in fremde Worte verpackt waren. Denn auch gegen diese Sätze mußte er sich schützen, paradoxerweise. Oder verhielt es sich am Ende noch ganz anders: War es ihm darum gegangen, die Intimität dadurch zu steigern, daß er vor sich das offene Geheimnis genoß, der Autor dieser Aufzeichnungen zu sein?
Die vorangehenden, bereits übersetzten Seiten über die Aneignung der Vergangenheit blieben unklar, wie man sie auch drehte und wendete. Noch einmal schlug Perlmann die entscheidenden Wörter nach, schlüpfte in die Beispielssätze und experimentierte mit allen möglichen Kombinationen von Übersetzungen. Eine Weile erwog er für osvaivat’ sogar confer, das nur unter prisvaivat’ vorkam; es würde gut mit Leskovs Idee des Erfindens harmonieren. Am Ende strich er von den vielen notierten Alternativen jeweils alle bis auf eine aus und war unzufrieden, weil ein Gefühl des Willkürlichen zurückblieb.
Das helle Grau der Dämmerung sickerte in den Nebel, und die Lichthöfe der Laternen bekamen einen weißblendenden Glanz. Perlmann schichtete die handschriftlichen Blätter der Übersetzung sorgfältig auf. Siebenundachtzig Seiten. Auch Leskovs Text ordnete er und tat ihn dann in die untere Wäscheschublade. Dann wischte er mit dem Taschentuch den Staub vom Tisch und leerte den übervollen Aschenbecher. Die Übersetzung war fertig. Seine Übersetzung. Sie war fertig. Eine Erleichterung, ein gelungener Satz.
Zittrig bestellte er Kaffee und mußte sich dabei mehrmals räuspern. Er fror bei aufgedrehter Heizung, als er nachher den Kaffee in sich hineingoß. Von Zeit zu Zeit nahm er die Übersetzung in die Hand und blätterte ein bißchen, ohne zu lesen. Er würde sie Agnes nicht zeigen können. Er würde ihr nie mehr etwas zeigen können. Viertel vor neun wusch er die Augen aus, nahm von Levetzovs Texte unter den Arm und ging hinunter.
17
Als die anderen die Veranda betraten und Perlmann dort bereits sitzen sahen, brachen sie ihre Gespräche ab und kramten, kaum daß sie saßen, geschäftig in ihren Unterlagen. Perlmann nickte ihnen nur kurz zu und blätterte um.
«Dann also weiter mit dieser sonderbaren Wissenschaft», sagte von Levetzov aufgeräumt und faßte in wenigen Sätzen den nächsten Text zusammen.
Perlmann gewann den Kampf gegen die Müdigkeit. Es dauerte eine Weile, bis er das gestern nachmittag Gelesene unter den Erinnerungen an die Nacht hervorgezerrt hatte; doch dann lief sein Gehirn hinter der Müdigkeit wie ein geöltes Uhrwerk, und es gelangen ihm Beiträge, welche den Verlauf der Sitzung weitgehend bestimmten. Von Levetzov bat ihn mehrfach, einen Einwand zu wiederholen, und schrieb dann mit. Nur Millar blickte, wenn Perlmann sprach, mit demonstrativer Langeweile zum Fenster hinaus in den Nebel. Evelyn Mistral nahm öfter die Brille ab und hörte Perlmann mit dem Ausdruck eines Menschen zu, der sich über die Genesung eines anderen freut. Immer wenn er das bemerkte, beendete er seinen Beitrag früher als geplant.
«Na, Perlmann: wieder dabei bei der fröhlichen Wissenschaft?»scherzte von Levetzov beim Hinausgehen.
Perlmann schlief ein, kaum war er unter die Decke gekrochen. Kitty mit dem Bären im Arm fragte ihn lispelnd lauter Dinge, die er nicht wußte. Das einzige, was er wußte, war, daß der Flügel nicht mehr stand, wo er sonst immer gestanden hatte. In Berlin war er indessen auch nicht, da gab es nur Hörsäle mit Massen von Studenten, und wenn er heimkam und zum x-tenmal in den hohen, hallenden Räumen nach dem Flügel suchte, nickte Agnes pausenlos und riß lauter Kisten mit Material für die eigene Dunkelkammer auf.
Es war bereits dunkel, als er
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