Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
denken, daß es ihm darum ganz und gar nicht geht.»
Er streifte Perlmann mit einem flüchtigen Blick und ging dann in einer Haltung zur Tür, als gehöre er überhaupt nicht zu der Gruppe.
An diese Haltung von Levetzovs und seinen letzten Satz dachte Perlmann den ganzen Nachmittag über immer von neuem. Dabei schwankte er zwischen der beängstigenden Empfindung, sein Gleichgewicht völlig verloren zu haben, und dem befreienden Gefühl von einem, der dadurch, daß er ohne Rücksicht auf die Folgen eine verpönte Meinung vertreten hatte, einen Schritt näher an sich selbst herangerückt war.
Endlich las er nun all die Texte, die er schon am Morgen hätte kennen sollen. Sie interessierten ihn nicht im geringsten, diese Texte, die, wie bei von Levetzov immer, mit einer geradezu barocken Sorgfalt komponiert waren. Aber er zwang sich, jede Zeile zu lesen. Morgen wollte er vorbereitet sein.
Verborgen hinter diesem Gedanken jedoch trieb ihn der Wunsch an, dem hochgewachsenen Hanseaten, in dem er sich offenbar gründlich getäuscht hatte, im stillen für seine überlegene Reaktion zu danken. Auch dafür, daß er ihn mit einem deutschen Satz angesprochen hatte. Jetzt, wo er sich jenen Moment noch einmal vergegenwärtigte, hatte er das Gefühl, die Intimität der Muttersprache noch nie zuvor so eindringlich und dankbar erlebt zu haben. Von Zeit zu Zeit stellte er sich von Levetzovs brillenloses Gesicht vor, das seltsam nackt gewirkt hatte. Oper. Und stets Mozart. Alkohol. Eine Schauspielerin.
Mitten in der Lektüre des dritten Texts stand er plötzlich auf, schlüpfte in die Jacke und ging hinunter zu von Levetzovs Zimmer. Er hatte keine Ahnung, wie die Entschuldigung klingen sollte, und um Zeit zu gewinnen hielt er das Ohr an die Tür. Von Levetzov telefonierte, offenbar mit seiner Sekretärin.
«Dann müssen wir das ganze Programm umstellen», sagte er gerade.«Lassen Sie die Referenten wissen, daß sich ihre Zeiten entsprechend ändern. All right, soviel dazu. Wie steht’s mit dem Antrag bei der Stiftung? Aha... ja... Gut. Und die Druckfahnen?»
Perlmann machte kehrt und ging zurück in sein Zimmer. Noch einmal rief er sich das Ende der Sitzung in Erinnerung: von Levetzovs Satz, seine Haltung. Und jetzt diese geschäftige Stimme, die Stimme eines Mannes, der in seiner Wissenschaft aufging. Es paßte nicht zusammen. Überhaupt nicht.
Er schleppte sich noch bis in die Mitte des vierten Texts, dann brach er ab und ging zur Trattoria. Schon als er den Glasperlenvorhang teilte, spürte er, daß es verkehrt gewesen war hierherzukommen. Auf die Geschichte über Sandras Klausur vermochte er sich nur mit großer Mühe zu konzentrieren und vergaß sie sofort wieder. Noch Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Ein ganzer Tag und zwei halbe. Und die Nächte.
Er wehrte zunächst ab, als ihm der Wirt die Chronik brachte; doch dann nahm er sie doch und schlug den Sommer nach, in dem er auf seine erste Professur berufen worden war. Aldo Moro ermordet. Sandro Pertini neuer Präsident. Tod von Papst Paul VI. Gelangweilt klappte er das Buch zu.
Was damals in der Welt geschehen war, interessierte ihn nicht. Er suchte etwas ganz anderes, eine Erinnerung, die an die Oberfläche drängte und kurz davor stets von neuem zersprang. Es hatte mit dem Flügel und einer Frage der fünfjährigen Kirsten zu tun.
Verloren. Ich habe verloren. Das war es: Das hatte er gedacht, als er damals das Berufungsschreiben auf den Flügel legte und mit bleiernen Fingern zu spielen versuchte. Die kleine Kirsten mit dem Teddy im Arm hatte offenbar schon lange in der Tür gestanden, bevor sie fragte, warum er heute so viele falsche Tasten anschlage. Bist du traurig? Wir werden wegziehen, Kitty; nach Berlin. Ist es dort nicht schön? Doch, Kind. Warum bist du dann traurig?
Papa sei traurig, sagte sie Agnes, die atemlos die Einkaufstaschen abstellte. Unsinn, sagte er und zeigte ihr lächelnd den Brief. Die Berliner Agentur ist größer, lachte sie und gab ihm einen Kuß.
Daß er mit der Chronik plötzlich nichts mehr hatte anfangen können: Es war, als habe man ihm ein Sicherungsseil weggenommen. Was ihn jetzt noch hielt, war die Übersetzung von Leskovs Text, dachte er auf dem Rückweg und hatte es eilig, in sein Zimmer zu kommen.
Noch fünf Seiten mit der waghalsigen These, daß das erzählerische Erinnern auch den sinnlichen Gehalt des Erinnerten schaffe. Mühsam bahnte sich Perlmann noch einmal einen Weg durch das Dickicht der ausgefallenen Wörter für
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