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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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daß er einer war, den Sätze, wie sie auf diesen kleinen Zetteln standen, viel mehr interessierten als die gesamte Flut linguistischer Daten und Theorien.
    Er bat darum, das Telefon auf der Theke benutzen zu dürfen, und rief Maria im Hotel an. Es habe sich etwas im Zeitplan geändert, sagte er, ob sie seinen Text nicht doch bis heute abend oder spätestens morgen mittag fertig haben könne.
    Sie werde es versuchen, sagte sie, aber versprechen könne sie es nicht, und eigentlich sei es ziemlich unwahrscheinlich, denn gerade seien einige Leute von Fiat eingetroffen, und natürlich müsse sie nun auch denen zur Verfügung stehen.
    Er wußte, es war kindisch, aber er war gekränkt, daß Maria ihn daran erinnert hatte, daß es noch etwas anderes auf der Welt gab als ihn und seine Gruppe. Sie hatte ja nicht unfreundlich reagiert, aber ihre Stimme war ganz geschäftsmäßig gewesen, und das genügte für eine Verstimmung, in die sich auch Ärger darüber mischte, daß er ihr seine Aufzeichnungen nicht viel früher schon zum Schreiben gegeben hatte.
    Auf der Rückfahrt zogen Wolken auf, die rasch wuchsen, dunkle Gebirge mit einem feinen Rand aus Sonnenlicht, ein böiger Wind kündigte ein Gewitter an, und bald war das Meer wie schäumendes, grünliches Blei vor einer dunklen, schiefergrauen Wand, in der Blitze aufschienen wie Gekritzel. Als ein heftiger Platzregen einsetzte, verzogen sich die Leute nach innen, nur Perlmann blieb draußen unter dem Vordach der Kabine.
    Wieder kreisten Sätze aus den Aufzeichnungen in seinem Kopf. Er prüfte sie, schmeckte sie ab, bemühte sich um ein neutrales, nüchternes, distanziertes Urteil. Statt dessen wurde er immer unsicherer, das Englische dämpfte die Sätze, machte sie glanzloser, weniger prätentiös, aber am Ende ist es trotzdem Kitsch. Er zog die fleckigen Zettel aus der Tasche und las sie, während Windstöße den Regen heranpeitschten und ihn bis auf die Haut durchnäßten. Als er fertig war, hielt er eine Weile inne und starrte hinaus in das Wetterleuchten. Dann zerknüllte er die Zettel langsam, beinahe sanft, und preßte sie mit beiden Händen zu einer festen Kugel zusammen. Er drehte sie noch einige Male hin und her. Dann warf er sie hinaus ins Meer. Die zweite Möglichkeit schied aus, endgültig.
    Es war so entsetzlich eng, dieses Gefängnis der drei Möglichkeiten, an dessen Gitterstäben er mit wütendem Überdruß rüttelte. Immer von neuem versuchte er eine Flucht, indem er sich an die Idee der größeren Zusammenhänge, der zurechtgerückten Proportionen klammerte. Es ist verrückt, mich von lächerlichen Fragen der Achtung innerhalb einer Gruppe von Kollegen so einschnüren zu lassen, daβ alles, was ich jenseits von alledem doch auch noch bin, als vollkommen bedeutungslos und überhaupt nicht vorhanden erscheint. Und überdies: Es gibt Katastrophen, Kriege, Hunger und Elend in der Welt dort draußen, und es gibt wirkliche Tragödien und wirkliches Leid. Warum befreie ich mich nicht dadurch, daβ ich diesem winzigen, diesem lachhaften Problem einfach die Wichtigkeit abspreche? Warum reiße ich die Gefängnismauern nicht dadurch nieder, daβ ich sie zu imaginären Gebilden erkläre? Wer hindert mich eigentlich daran?
    Doch jeder Anlauf, auf diese Weise, durch einen veränderten Blickwinkel und eine neue Bewertung der Dinge, den ersehnten Schritt in die Freiheit zu tun, erwies sich als trügerisch und ohne bleibende Wirkung, sobald sich das Bild des verhaßten Hotels wieder in den Vordergrund schob und, als wohnten ihm hypnotische Kräfte inne, alles andere auslöschte.
    Als die Landzunge von Portofino in Sicht kam, überfiel ihn Panik, eine Panik, die zwei Stunden zuvor in der Hafenkneipe besiegt geschienen hatte. Das Wort PLAGIAT formte sich in ihm, gegen seinen Willen wurde es immer größer, es dehnte sich in ihm aus und erfüllte ihn mit einem inneren Dröhnen. So wie jetzt hatte er diesem Wort noch nie gegenübergestanden, er entdeckte es in diesem Moment zum erstenmal richtig. Es war ein entsetzliches Wort, ein Wort, bei dem er an die Farbe Rot dachte, ein dunkles Rot mit einer Ahnung von Schwarz. Es war ein düsteres, schweres Wort mit einem unheilvollen Klang, ein abstoßendes und unnatürliches Wort. Es kam ihm vor wie ein Wort, das man mit Bedacht zusammengebaut hatte, um jemanden im Innersten zu erschrecken und zu quälen, indem man das Gefühl in ihm hervorrief, daß es unter all den Handlungen, derer Menschen fähig waren, kein größeres Vergehen gab

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