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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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als das, wofür dieses häßliche, eckige Wort stand.
    Der einzige, der ihn entlarven könnte, wäre Leskov selbst, und der saß in St. Petersburg, Tausende von Kilometern entfernt, ohne Ausreiseerlaubnis und angebunden durch seine kranke Mutter. Mehr Sicherheit vor der Entdeckung eines Betrugs war eigentlich kaum denkbar. Aber diese Überlegung wirkte kraftlos und papieren, gemessen an einer stummen Gewißheit, die ihn in seinen nassen Kleidern noch mehr frösteln ließ: Einen solchen Betrug begangen zu haben, einen glatten Gedanken- und Textdiebstahl von diesem Ausmaß, wäre für einen wie ihn, dem Wörter so viel bedeuteten, eine Wunde, die niemals heilen würde, ein Trauma, von dem er sich nicht erholen könnte. In gewissem Sinne wäre es das Ende seines Lebens. Danach wäre die Zeit bis zum Tode etwas, was er nur noch erleiden konnte. Durch gelegentliches Vergessen und Versinken in Alltäglichkeiten würde sie ein bißchen erträglicher gemacht; aber Perlmann war ganz sicher, daß es auf der gesamten Strecke, die er noch vor sich hatte, keinen einzigen Tag geben würde, an dem er nicht daran denken und innerlich das Wort PLAGIAT hören müßte.
    Auf dem Weg zum Ausgang war er erneut voller Scham darüber, daß er diesem Gedanken überhaupt soviel Raum gegeben hatte, und gleichzeitig war er froh, ihm einmal offen ins Gesicht geblickt und ihn dann ein für allemal niedergerungen zu haben.
    Als er den Fuß aufs Land setzte und die Richtung zum Hotel einschlug, hatte er noch immer keine Ahnung, was er tun würde.
     
    Auf dem Zimmer zog er die nassen Sachen aus, duschte lange und trat dann ans offene Fenster. Der Regen hatte aufgehört, das Gewitter war nach Süden gezogen, nur ganz in der Ferne sah man noch ab und zu ein Leuchten und hörte einen schwachen Donner. Die Nacht brach herein. Perlmann legte sich aufs Bett. Er fühlte sich erschöpft bis in die letzte Faser hinein, es war eine vibrierende Müdigkeit, die ihn durchströmte, und doch war sein gesamter Körper zugleich angespannt und widersetzte sich jedem Versuch der Entspannung. Er hatte nur noch den einen Wunsch, diese Angespanntheit möge in sich zusammenfallen und dem Schlaf weichen. Aber der Zustand dauerte an, der ersehnte Stoffwechsel im Gehirn setzte nicht ein, und nach einer Weile ging er ins Bad und nahm eine Vierteltablette.
    Sein Gesicht im Spiegel hatte von der Schiffahrt Farbe bekommen. Philipp Perlmann gebräunt im Italienurlaub, dachte er und wußte nicht, wohin er mit all seiner Verzweiflung sollte. Mit einem dumpfen, leeren Kopf rauchte er zwei Zigaretten, legte sich dann wieder hin, und nach einigen quälenden Minuten, in denen er sich hin und her wälzte, glitt er in einen flachen, unruhigen Schlaf.
    Es war nach zehn Uhr nachts, als er aufwachte. Sofort merkte er, wie sich die lähmende Beklemmung, die ihn auch während des Schlafs umklammert gehalten hatte, bruchlos in den Wachzustand hinein fortsetzte. Aber es dauerte eine Weile, bis er seine Orientierungslosigkeit überwunden hatte. Jetzt muβ ich etwas tun, es ist der letzte Moment, wenn ich jetzt nichts tue, so ist das auch eine Entscheidung, es bleibt dann nur der Offenbarungseid.
    Dumpf spürte er, daß es da im Laufe des Tages einen komplizierten Prozeß des Überlegens gegeben hatte, ein dichtes Netz von verschlungenen, ausweglosen Gedanken. Doch sein Kopf war jetzt zu schwer dafür. Er erinnerte sich an die Schiffahrt, aber dieser ganze Tag schien weit weg zu sein und unwirklich. Der einzige klare Gedanke, den er zu fassen vermochte, war, daß er jetzt hinuntergehen und einen Text abgeben mußte, der morgen früh, während er noch schlief, kopiert und verteilt werden konnte. Maria; mein Text ist noch nicht fertig; die Leute von Fiat.
    Als er das Zahlenschloß am Koffer einstellte, spürte er, daß die Fingerspitzen von der Tablette taub waren. Es war keineswegs eine vollständige Taubheit, sie betraf nur die alleräußerste Schicht und war eigentlich eher ein leichtes Kribbeln, aber sie vermittelte Perlmann das Gefühl, daß der Kontakt mit der Welt verlorenging, derjenige Kontakt, den man für Kontrolle brauchte. Es war, als ob sich zwischen ihn und die Welt eine winzige Lücke geschoben hätte, ein hauchdünner Hiat, durch den ihm die Welt entglitt. Er nahm die Übersetzung von Leskovs Text aus dem Koffer und ging zur Tür. Dort drehte er um, ging ins Badezimmer und schluckte eine ganze Schlaftablette. Nach unten nahm er den Fahrstuhl.
    Beim Empfang war niemand, aber im

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