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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zwischen den Tränen, die nicht mehr aufzuhalten waren,«im Gegenteil, das ist... das ist meine Rettung. »
    Er wandte sich ab und suchte vergeblich nach einem Taschentuch. Dann fuhr er sich mit dem Jackenärmel über die Augen und sah sie wieder an.
    «Entschuldigen Sie vielmals», sagte er leise und wehrte sich vergeblich gegen die erneuten Tränen,«ich kann Ihnen das unmöglich erklären, aber ich habe noch nie eine derartige Erleichterung empfunden. Sie ist... unbeschreiblich groß. Einfach unbeschreiblich.»
    Als er die Hand wieder von den Augen nahm, sah sie ihn mit einem Blick an, als nähme sie ihn zum erstenmal richtig wahr. Sie lächelte und berührte ihn am Arm.«Dann sollten Sie jetzt schlafen gehen», sagte sie,«Sie sehen vollkommen erledigt aus. »
    Er sah ihr nach, bis sie, ohne sich umzudrehen, in eine Gasse einbog. Es war ein Augenblick der Gegenwart. Die Gegenwart einer nicht mehr für möglich gehaltenen, wie ein Wunder erscheinenden Erlösung.
    Als er dann, um die kostbare Gegenwart auszukosten, ganz langsam zurückging, stach es jedesmal wie mit Nadeln, wenn er mit dem eiskalten Fuß auftrat, und auch in der Lunge durchfuhr ihn von Zeit zu Zeit ein stechender Schmerz. Aber das spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle außer der überwältigenden Erleichterung. Kein Plagiat. Ich habe kein Plagiat begangen. Kein Plagiat. Es war wie ein langsames, ungläubiges Auftauchen aus einer sehr großen, sehr dunklen Tiefe, begleitet von einer Schreckhaftigkeit, die er in jeder Faser des Körpers zu spüren meinte. Wieder las er Marias Anweisung auf dem Kärtchen. Und dann noch zwei weitere Male. Es war dieser Text, den Signora Morelli kopiert hatte, genau dieser, und nur dieser. Das hatte sie gesagt. Hat sie es gesagt?
    Als er um die Ecke bog und die schrägen Pinien sah, die um diese Zeit nicht mehr beleuchtet waren, sondern sich nur noch durch ihr milchiges Graugrün gegen den Nachthimmel abhoben, zersprang seine Erleichterung, und es kam ihm vor, als würde er durch eine zentnerschwere Last erneut in die Tiefe hinuntergedrückt. Giovanni muß die Kopien selbst gemacht und verteilt haben, deshalb weiß sie nichts von Leskovs Text. Eine eiserne Kralle packte ihn an der Brust, und jeder einzelne Stich aus dem Fuß war eine wahre Folter, als er hastig zurückhumpelte, auf der Treppe in den verlorenen Schuh schlüpfte und schwer atmend an die Empfangstheke trat.
    «Freitag nacht», stieß er hervor,«als das Fußballspiel im Fernsehen lief, da habe ich Ihnen doch einen Text gebracht. Was haben Sie damit gemacht?»
    Giovanni schlug den Blick nieder.«Eh... nichts», sagte er und zog lange an der Zigarette. Dann, als er den Rauch ganz ausgestoßen hatte, sah er Perlmann mit unsicherem Blick an.«Es war nämlich so... ich war nicht recht bei der Sache, sozusagen, weil... Sehen Sie, da war halt dieses Ausgleichstor in der neunzigsten Minute, und dann das Elfmeterschießen... und nachher wußte ich nicht mehr, was genau Sie mir gesagt hatten, und da habe ich den Text einfach in Ihr Fach gelegt. Es tut mit leid, wenn deshalb etwas schiefgegangen ist, aber es war derart aufregend, daß... »
    Perlmann schloß einen Moment die Augen und atmete im Zeitlupentempo aus. Dann legte er seine Hand auf diejenige von Giovanni.«Sie haben das Richtige getan», sagte er,«genau das Richtige. Ich bin sehr froh. La ringrazio. Mille grazie. Grazie.»
    Giovanni fiel ein Stein vom Herzen.«Wirklich? Ich... Wissen Sie, ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen deswegen... Kann ich vielleicht jetzt noch etwas für Sie tun?»
    «Nein, nichts», sagte Perlmann lächelnd,«und nochmals vielen Dank!»
    Giovanni machte eine linkische, unterwegs abgebrochene Bewegung mit dem Arm, die besser als jedes Wort und jede Miene seiner Verwunderung Ausdruck verlieh.
    Perlmann ging zum Aufzug, wartete ihn jedoch nicht ab, sondern begann, die Treppe hinaufzuhumpeln. Er ließ sich Zeit. Er war zu aufgewühlt, als daß er daraus schon einen Satz hätte machen können. Aber die Empfindung war da: Er konnte sich im Hotel wieder frei bewegen. Er war kein Betrüger.
    Als es in der Leitung zu rauschen begann, legte er auf. Was hatte er ihr eigentlich sagen wollen? Dazu noch in einem alarmierenden Anruf nachts um Viertel vor zwei. Und mit seiner schweren Zunge. Seine Hand umschloß das rote Feuerzeug. Nun brauchte er ihr nichts zu erklären, sich für nichts zu entschuldigen. Er konnte seiner Tochter genau wie früher begegnen. Er war zurück aus

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