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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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leitendes Personal zu führen, fast wie einen Familienbetrieb. »
    Es war das erste Mal, daß er etwas so Persönliches von ihr hörte, und hätte er noch ihrer Welt, und überhaupt der Welt, angehört, so wäre er, statt nur stumm zu nicken, sehr gern darauf eingegangen.
    «Ach, übrigens», sagte sie, schon zum Gehen gewandt,«ich habe Ihnen das Original Ihres Texts ins Fach gelegt. Ich habe es am Samstag in der Eile neben dem Kopierer liegenlassen. Ich hoffe, Sie haben es nicht vermißt. »
    Perlmann verstand nicht. Und er wollte auch nicht verstehen. Er wollte nie mehr einen Satz verstehen müssen, in dem Wörter wie Text, Original und Kopie vorkamen. Nie mehr.
    «Venga», sagte die Signora, als sie sein leeres Gesicht sah, und ging wieder die Treppe hinauf. Es war unmöglich, ihr nicht zu folgen. Sie schob Giovanni, der überrascht von der Zeitung aufsah und grüßte, beiseite und nahm einen Text aus Perlmanns Fach.«Eccolo», sagte sie.«Aber jetzt muß ich wirklich gehen. Buona notte!»
    Giovanni sah ihn fragend an, als sie draußen war.
    «Ein Taxi», sagte er,«ich brauche ein Taxi.»Giovanni griff zum Hörer.
    Daß er verwirrt war, merkte Perlmann nur daran, daß er entgegen seinem Vorsatz stehenblieb, während Giovanni telefonierte. Den Text hielt er in der herunterhängenden Hand, und er hielt ihn so, wie man etwas hält, das man bei nächster Gelegenheit in den Rinnstein fallen läßt. Er wollte nie mehr einen Text in der Hand halten. Nie mehr.
    Die Taxizentrale ließ sich Zeit, und es entstand ein unangenehmes, wortloses Warten. Es war einzig und allein, um gegen dieses Warten etwas zu tun, daß Perlmann auf seine Hand mit dem Text hinuntersah. Und es dauerte einen Moment, bis er das längliche Kärtchen bemerkte, das unter der Heftklammer steckte, die den Blätterstoß zusammenhielt. Noch bevor er wußte, was darauf stand, fing etwas in ihm an zu vibrieren. Ruckartig winkelte er den Arm an, brachte das Kärtchen vor die Augen und las: 6 copie. Per il gruppo di Perlmann. Distribuire, come sempre. Er verstand nicht, die Kopiervorlage habe ich doch vorhin weggeworfen, aber sein Atem ging schneller, er las noch einmal, hob das Kärtchen an, und da sah er den Titel: MESTRE NON È BRUTTA. Darunter sein Name.
    Mehrere Sekunden lang blieb er reglos stehen, blind und taub für die Umgebung, eingehüllt in das Pochen seines Bluts. Maria. Der Anruf aus Genua. Sie hat meine Aufzeichnungen doch noch fertig geschrieben. Trotz der Leute von Fiat.
    Es dauerte, bis der Gedanke den Weg zum Körper gefunden hatte. Dann rannte Perlmann los, er stieß sich an der Tür, knickte auf der Treppe mit dem Fuß ein und verlor einen Schuh, aber er rannte trotz der Schmerzen und trotz des kalten Pflasters wie noch nie in seinem gesamten Leben, den eingerollten Text in der Faust wie einen Staffettenstab, er bekam Seitenstechen und mußte husten, gütiger Gott, hoffentlich denke ich das Richtige, jetzt sah er die Gestalt von Signora Morelli, wie sie am Jachthafen entlangging, er rannte mit einer Lunge, die zu zerbersten drohte, fürs Rufen blieb kein Atem, und endlich, als die weichen Knie ihn schon nicht mehr tragen wollten und er zu stolpern begann, hatte er sie eingeholt. Er brachte kein Wort heraus, bückte sich nur atemlos und hustete, die Hände wegen der Stiche an die Rippen gepreßt.
    «Diese Notiz hier», stieß er schließlich stockend hervor, und jetzt war es ihm gleichgültig, daß ihm der Mund nicht recht gehorchte,«heißt das, daß Sie den Text sechsmal kopiert haben?»
    «Si, Dottore», sagte sie, und auf ihrem Gesicht machte die anfängliche Überraschung einem Ausdruck der Abwehr und Verteidigungsbereitschaft Platz.
    «Und das waren die Kopien, die Sie am Samstag morgen in die Fächer meiner Kollegen getan haben?»
    «Si.»
    «Und Sie haben keinen anderen Text kopiert und verteilt?»«No, Signor Perlmann», sagte sie, jetzt sichtlich verärgert über das atemlose Verhör,«das ist der Text, den mir Maria hingelegt hatte. Einen anderen habe ich nicht bekommen. »
    Er hielt Signora Morelli die Blätter so dicht vors Gesicht, als sei sie halbblind.
    «Diesen Text hier? Diesen hier? Keinen anderen?»
    Signora Morellis Ton änderte sich, als Perlmann die Blätter sinken ließ und sie in seinem Gesicht die Vorboten der Tränen erkannte.
    «Aber ja, Dottore», sagte sie sanft,«es war dieser Text hier, genau dieser, und nur dieser. Was habe ich damit bloß angerichtet?»
    «Angerichtet? Nichts, nichts», stammelte er

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