Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Gedanken ins schwarze Wasser hinauszuwaten brauchen.
Perlmann wußte, sie war absurd, diese Orgie von irrealen Bedingungssätzen, und nicht nur das, sie fraß auch die Erleichterung auf, so daß er sich jetzt in die Tränen der ersten Erlösung zurücksehnte. Aber dieses Wissen half nichts, die Suche nach immer weiteren Zusammenhängen war wie eine Sucht wider Willen. Hätte Larissa nicht ein schlechtes Gewissen geplagt, so hätte sie Leskov nicht zu einem erneuten Antrag gedrängt, es hätte kein Telegramm gegeben und keine Entlarvungsangst, und was sich heute nacht aufgelöst hätte, wäre nicht eine Selbstmordabsicht gewesen, sondern nur eine nagende Empfindung der Schuld. Hätte mir der Kellner das Telegramm nicht genau in dem Moment gebracht, wo ich Evelyn auf Leskovs Text ansprechen wollte, so hätte ich an ihren Äußerungen gemerkt, daß etwas nicht stimmte, und auch dann wäre mir der Bulldozer erspart geblieben. Hätte heute abend im REGINA ELENA keine Hochzeitsfeier stattgefunden, dann hätte ich vielleicht dort nach einem Taxi telefonieren lassen, und dann hätte ich Kirsten in Konstanz ein Plagiat erklärt, das gar nicht stattgefunden hat. Perlmann hörte auf.
Nun hatten sie also seit Tagen seine Aufzeichnungen in der Hand, überschrieben mit einem italienischen Satz, der ihnen manieriert und angeberisch vorkommen mußte. Er nahm den Computerausdruck in die Hand. Zweiundfünfzig Seiten waren es geworden. Ich hätte es am Umfang, an der Dicke der Blätterstöße merken können. Dreiundsiebzig Seiten in meinem Fach gegenüber zweiundfünfzig in den Fächern der anderen, das ist ein Unterschied, den man schon von weitem hätte erkennen können. Und heute abend, bei der Ankunft, hätte ich es in der Hand spüren können, daß es nicht Leskovs Text sein konnte; daß der Stoß zu dünn war.
Er ließ die Blätter durch die Finger gleiten und wog den Stoß in der Hand. Richtig zu blättern und probeweise zu lesen, das wagte er nicht, und er achtete darauf, daß sich der Blick auch im obersten Blatt nicht verfing. Er wollte jetzt, wo er sich wie der Überlebende einer Katastrophe fühlte, nicht auch noch in dieser Form über sich selbst erschrecken müssen – etwa über kitschige Metaphern oder einen larmoyanten Ton. Und auch seinem schriftlichen Englisch wollte er jetzt nicht begegnen – einem Englisch, das selten regelrecht falsch war und doch nie die anstrengungslose Genauigkeit besaß, die er sich gewünscht hätte. Er ließ die Blätter in die Schublade des Schreibtischs gleiten
Angelinis Bemerkung am Sonntag abend, dachte er, erschien jetzt in einem neuen Licht. Un lavoro insolito, hatte er den Text genannt. Auch war es kein Wunder, daß sonst niemand über den Text ein Wort verloren hatte. Daß sie ihn sozusagen totgeschwiegen hatten.
In sechseinhalb Stunden mußte er die drei Stufen zur Veranda hinaufgehen und sich vorne hinsetzen. Alle, die da saßen und ihn ansahen, hatten seinen Text vor sich liegen, und sie hatten ihn gegenwärtig von der ersten bis zur letzten Seite. Nur ich, ich allein, weiß nicht, was drinsteht . Das war ein offensichtlich falscher, widersinniger Gedanke, Perlmann wußte es. Noch am Freitag auf dem Schiff war er die Aufzeichnungen in Gedanken durchgegangen. Aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben, eher noch schwoll er an. Sie wußten mehr über ihn als er selbst. Sie warteten, und er wußte nichts zu sagen. Sie fragten, und er wußte nichts zu antworten. Sie kritisierten, und er wußte nichts zu erwidern.
Es konnte doch nicht sein, daß die unerhörte Erleichterung, die ihn noch vor einer Stunde ganz ausgefüllt hatte, bereits wieder durch eine neue Angst erstickt wurde. Es durfte nicht sein. Ich bin nicht zum Betrüger und nicht zum Mörder geworden. Was kann es jetzt noch für einen Grund zur Angst geben. Perlmann nahm einen langen Anlauf in diesem Gedanken und versuchte dann, in einem einzigen Ruck die innere Freiheit zu erhaschen oder auch zu erzwingen, die ihn unverwundbar machen würde gegenüber allem, was die anderen sagten oder nicht sagten, gegenüber ihren Mienen und Blicken, und auch gegenüber den Blicken, die in der peinlichen Stille auf die glänzende Tischplatte fielen.
Er rief Giovanni an. Er könne nun doch etwas für ihn tun und ihm zwei Kannen starken Kaffee besorgen. Es blieben ihm noch sechs Stunden. Für einen vollständigen Vortrag reichte das nicht. Aber er konnte ein Expose schreiben, das sich mündlich weiterentwickeln ließ. Worauf es
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