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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ankam, war, etwas im Abstrakten zu entwickeln und die Umrisse einer Konzeption zu zeichnen. Darauf würde sich die Diskussion dann konzentrieren. Der verteilte Text, konnte er leichthin sagen, sei im Grunde nebensächlich, er habe damit nur einen kleinen Einblick in die Beobachtungen geben wollen, von denen er ursprünglich ausgegangen sei.
    Perlmann hatte Herzklopfen, als er sich an den Schreibtisch setzte. Hier zu sitzen, das hatte bisher geheißen, Leskovs Text zu übersetzen. Stunde um Stunde, Tag für Tag hatte er sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Jeder übersetzte Satz hatte ihn der tödlichen Stille des Tunnels ein Stück näher gebracht. Ein leiser Schwindel erfaßte ihn, als er nun den Stuhl sorgfältig zurechtrückte, eine Zigarette anzündete und zum Kugelschreiber griff. Vier Wochen lang war er diesem Augenblick ausgewichen. Seine Hände waren klebrig, und das Klebrige übertrug sich auf den Kugelschreiber. Er stand auf, wusch sich im Bad die Hände und wischte den Stift ab. Giovanni brachte den Kaffee. Perlmann stellte ihn erst rechts auf den Schreibtisch, dann links. Den Zettel mit Kirstens Adresse warf er in den Papierkorb. Er legte eine Ersatzpackung Zigaretten bereit und holte das rote Feuerzeug vom Nachttisch. Im Bademantel würde er bald zu frieren beginnen. Er zog sich vollständig an. Die helle Hose war indessen zu kühl. Der Riß an der anderen aber störte. Dann eben die dunkle Flanellhose mit den Blutflecken. Und es war doch besser, den leichteren Pullover überzuziehen. Lieber dafür die Heizung etwas höher stellen. Wieder rückte er den Stuhl zurecht. Er mußte dicht am Schreibtisch sein. Aber nicht zu dicht.
     
    Warum hatte er es nicht schon viel früher versucht. Die Sätze kamen doch. Sie kamen tatsächlich, einer nach dem anderen. Anfänglich hatte er Angst vor jedem Punkt, denn danach konnte alles versiegen. Doch als das erste Blatt voll war, wich die Angst, das Fühlen insgesamt trat in den Hintergrund, und die ruhige Logik der Sätze selbst übernahm die Regie. Seit Monaten, Jahren fast, hatte er sich jeden einzelnen Satz mühsam abringen müssen, es hatte geschienen, als könne er für alle Zukunft nur noch in ganz kleinen Einheiten denken. Und nun auf einmal ergaben sich die Sätze wie von selbst auseinander, es baute sich etwas auf, er schrieb einen Text, einen wirklichen Text. Ich kann es doch noch. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.
    Der Kugelschreiber flog nun förmlich über die Seiten, und Perlmann schaffte es kaum, die Gedanken, die sich jagten, auf dem Papier festzuhalten. Endlich war der Knoten geplatzt. Er hatte wieder etwas zu sagen. Er nahm den Stift nur vom Papier, um eine weitere Zigarette anzuzünden oder sich die nächste Tasse Kaffee einzuschenken. Er rauchte mit der linken Hand, und auch die Tasse führte er mit dieser Hand zum Mund, ungewohnt, aber die rechte durfte beim Schreiben nicht unterbrochen werden. Nicht ein Expose, es wird ein Vortrag, ein vollständiger Vortrag. Durch die ungewohnte Art, die Zigarette zu halten, geriet ihm öfter Rauch in die Augen, es brannte, und die Augen tränten, aber die rechte Hand schrieb weiter und weiter. Er war erstaunt und beglückt, wie gut, wie treffend die Formulierungen waren, die da mit der größten Selbstverständlichkeit aufs Papier flossen, einige von ihnen, fand er, hatten geradezu poetische Kraft. Hoffentlich reichte das Papier, sonst mußte er anfangen, die Blätter beidseitig zu beschreiben. Irgendwann würde ihm der Kaffee ausgehen. Ein Glück, daß es im Schrank noch mehr Zigaretten gab. Hoffentlich streikte nicht plötzlich das Feuerzeug. Einmal hielt er inne und schloß die Augen. Gegenwart. Das ist sie. Jetzt erlebe ich sie endlich. Es hat all dieser Erschütterungen bedurft, um zu ihr durchzustoßen.
    Um fünf öffnete er das Fenster. Schwaden von Rauch trieben in die Nacht hinaus. Er atmete die kühle Luft tief ein. Es wurde ihm schwindlig, und er mußte sich am Fenstergriff festhalten. Er spürte, daß er sich in halsbrecherischer Fahrt über hauchdünnes Eis bewegte. Das Lichterband jenseits der Bucht war ganz regelmäßig, schmal und still. Als sein Blick die Strandmole beim REGINA ELENA streifte, schloß er rasch das Fenster. Er wollte glauben, es käme ihm vor, als seien jene Dinge vor sehr langer Zeit geschehen.
    Er wußte nicht sofort, wie er den nächsten Absatz beginnen sollte, und geriet in Panik. Doch dann las er die letzten drei Seiten, und darüber fand er zurück in den

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