Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Rausch des Schreibens. Nach einer Weile, als er keinen Kaffee mehr hatte, wurde die Zunge pelzig. Ärgerlich über die Unterbrechung ging er ins Bad und trank ein Glas Wasser. Er war sein bleiches, von Angst gezeichnetes Gesicht gewohnt, er hatte es in den letzten Tagen oft genug gesehen. Jetzt aber erschrak er doch. Seine Züge waren eingefallen und verrutscht. Er dachte an Bilder von Menschen, die einer vervielfachten Schwerkraft ausgesetzt wurden. Aber das zählte jetzt nicht. Was zählte, waren die Sätze, die hinter diesem Gesicht entstanden und in seine rechte Hand flossen. Es war durch und durch rätselhaft, wie das vor sich ging, es gab da einen Abgrund von Unverstandenem, und für einen kurzen Augenblick erlebte Perlmann die Faszination des Wissenschaftlers vor einem rätselhaften Phänomen, eine Faszination, die ihm abhanden gekommen war. Es wird alles wieder ins Lot kommen . Obwohl er keine Kopfschmerzen hatte, entnahm er der Packung auf der Spiegelablage zwei Aspirin und spülte sie hinunter. Dann ging er mit einem Glas Wasser zurück an den Schreibtisch.
    Kurz vor sieben begann es zu dämmern. Ohne das Dunkel der Nacht fühlte er sich schutzlos und geriet aus dem Gleichgewicht. Die Sätze begannen zu mißlingen, er mußte einige durchstreichen, und bald kam es zum ersten Blatt, das er zerknüllt in den Papierkorb warf. Die Mischung aus Lampenlicht und aufkommendem Tageslicht machte ihn rasend. Als er hinüberging und die Stehlampe löschte, gab es bei jedem Schritt heftige Stiche aus dem Fußgelenk, in dem er zudem eine unangenehme Kraftlosigkeit spürte. Ganz ohne elektrisches Licht ging es doch noch nicht, und er knipste die Schreibtischlampe wieder an. Das Gedächtnis fing an zu streiken, die einfachsten englischen Wörter fielen ihm nicht mehr ein, und mit einemmal war er auch bei der Rechtschreibung unsicher.
    Eine kleine Pause. Er konnte sich, bis es richtig hell war, ein bißchen hinlegen. Nur ein paar Minuten. Danach blieben immer noch anderthalb Stunden, um den Vortrag zu Ende zu schreiben.

41
     
    Eine wilde Huperei auf der Uferstraße ließ ihn aufschrecken. Er fühlte sich ohne Orientierung und sank sofort in eine bleierne Müdigkeit zurück. Die Augenlider schienen wie gelähmt und ließen sich erst öffnen, als er sich mit äußerster Willenskraft aufgerichtet hatte und auf dem Bettrand saß. Der Kopf tat bei der geringsten Bewegung weh, und die Adern schienen viel zu eng für das heftig pochende Blut. Der Verkehrslärm war unerträglich. Es war sieben Minuten vor neun.
    Keine Zeit mehr fürs Duschen und Rasieren, und auch Kaffee konnte er keinen mehr bestellen. Erleichtert stellte er fest, daß ihm die Zunge, obwohl sie dick war und brannte, wieder ganz gehorchte. Er schaufelte mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht und rief dadurch die Erinnerung an die Tankstellentoilette in Recco hervor. Kein Mord. Kein Plagiat. Hastig raffte er die Blätter auf dem Schreibtisch zusammen. Es waren mindestens zwanzig Seiten, dachte er. Die letzte halbe Seite war durchgestrichen. Am Schluß muß ich improvisieren.
    Der Aufzug war besetzt. Zwei Minuten nach neun. Perlmann biß auf die Zähne und humpelte die Treppe hinunter. Er hatte den Ausdruck seiner Aufzeichnungen vergessen, und als er sich vergewissern wollte, daß er wenigstens einen Stift bei sich hatte, sah er, daß quer über die Jacke zwei dicke Schmutzstreifen liefen. Die Mülltonne beim Ventilator . Er blickte auf die Hose: überall Blutflecke. In der Halle angekommen, sah er durch die Glastür des Eingangs das Meer, das in der Morgensonne glitzerte. Irgendeinmal in der Nacht, das wußte er noch, hatte er gemeint, endlich die Gegenwart gefunden zu haben. Eine Täuschung, gewoben aus Erleichterung, Alkohol und Tabletten. Die Gegenwart war ferner denn je.
    Die Tür zur Veranda stand offen. Perlmann spürte keine Stiche mehr, als er durch den Salon darauf zuging und die drei Stufen nahm. Die Angst legte sich über ihn wie ein betäubender Schleier. Er war noch gar nicht ganz im Raum, da hatte er schon gesehen, daß sie alle da waren, auch Silvestri und Angelini. Und hinten rechts Leskov mit der Pfeife im Mund. Perlmann zog seinen Blick sofort zurück. Er wollte sich durch keines dieser Gesichter verwunden lassen. Wie während der Nacht wollte er ganz in sich selbst eingeschlossen bleiben, unerreichbar für die anderen.
    Wie immer stand Kaffee auf dem Tisch, eine Kanne allein für den Redner. Perlmann setzte sich grußlos hin, schenkte sich

Weitere Kostenlose Bücher