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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ein und konzentrierte sich darauf, nicht zu zittern. Der Kaffee war heiß, man konnte nur langsam trinken. Er konnte unmöglich unter den Blicken der anderen erst die ganze Tasse austrinken. Nach drei Schlucken setzte er sie ab. Er hatte einleitende Worte der Erklärung sagen wollen: über den verteilten Text und sein Verhältnis zu dem, was er jetzt vortragen werde. Aber solche Worte hätte er nicht mit gesenktem Blick sagen können, und er brachte es jetzt nicht fertig, den Blicken der anderen zu begegnen. Nicht, bevor sie den Text von heute nacht gehört hatten, der ihn rehabilitieren würde. Er nahm noch einen Schluck Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und begann vorzulesen.
    Die einleitenden Sätze waren zu langatmig geraten. Er merkte es sofort, wurde ungeduldig und rasselte sie hastig herunter, um endlich zu der ersten These zu kommen, die in ihrer Originalität, da war er ganz sicher, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sofort fesseln würde. Er legte das erste Blatt zur Seite und war froh zu sehen, daß vor dem entscheidenden Absatz nur noch drei Zeilen kamen. Als er sie hinter sich hatte, nahm er zwei große Schlucke Kaffee, sah einen Moment auf und stürzte sich dann in den Gedankengang.
    Was er da las, war so unsäglich schwach, daß ihm die Sätze buchstäblich im Halse steckenblieben. Es war eine besondere Anstrengung nötig, beinahe schon ein Würgen, um sie jeweils bis zum Ende vorzulesen. Es war der reine Kitsch, lauter sentimentales Zeug, zusammengedacht von einem, der am Ende seiner Kräfte war und zudem unter dem Einfluß von Alkohol und Tabletten stand, so daß jegliche kritische Fähigkeit, jeder Mechanismus der Zensur ganz und gar ausgesetzt hatte. Perlmann wäre am liebsten im Erdboden versunken, und wenn er, mit immer leiserer Stimme, weiterlas, dann nur deshalb, weil er nicht wußte, wie er die Stille aushalten sollte, die eintreten würde, wenn er abbrach.
    Leskov hatte sich am Rauch verschluckt und bekam einen Hustenanfall. Er krümmte sich mit hochrotem Kopf zusammen, und seine Hustenstöße waren so laut, daß jeder Vortrag unterbrochen worden wäre. Perlmann sah zu ihm hinüber, und in diesem Augenblick drängte ein Gedanke ins Bewußtsein, der bis dahin von irgendeiner Kraft niedergehalten worden war: Ich hätte ihn ganz umsonst getötet. Es wäre ein vollständig sinnloser Mord gewesen. Ein Mord infolge eines Irrtums . Ohne daß er es noch recht merkte, rutschten ihm die Blätter aus der Hand, sein Mund öffnete sich halb, und sein Blick wurde leer. Er fror. Er hörte das durchdringende, hohe Pfeifen und sah die riesige Schaufelwand mit den seitlichen Zacken auf sich zukommen. Es wurde ganz still wie in Watte und Schnee. Er nahm die eiskalten, schweißnassen Hände vom Steuer. Dann war nur noch Schwäche und Dunkel. Perlmann fiel die Zigarette aus der Hand, und in einer merkwürdig verlangsamten, fließenden Bewegung glitt er seitlich zu Boden.
     
    Es war ein angenehmes, anstrengungsloses Hinaufgleiten durch immer dünnere, immer hellere Schichten. Am Ende kam ein leichtes, leises Erschrecken, die Welt stand ganz still, und mit einer winzigen Verzögerung, die er gerade noch bemerkte, um sie sofort wieder zu vergessen, wurde Perlmann klar, daß die Eindrücke, die durch die offenen Augen zu ihm drangen, Wachsein bedeuteten.
    Er lag in den Kleidern unter der Bettdecke, nur Jacke und Schuhe hatte er nicht mehr an. Im roten Sessel am offenen Fenster saß Giorgio Silvestri. Er wandte ihm den Rücken zu und las die Zeitung. Perlmann war froh, daß er rauchte. Das nahm der Situation den Charakter eines Krankenbesuchs. Er hätte gern auf die Uhr gesehen. Aber das hätte Silvestri gehört, und er wollte noch eine Weile mit sich allein sein. Er schloß die Augen und versuchte, Ordnung in die Gedanken zu bringen.
    Die Ohnmacht hatte ihn beruhigt, und wenn die Müdigkeit auch alles verlangsamte, so hatte er doch das Gefühl, klar denken zu können. An die Einzelheiten des Geschehens in der Veranda erinnerte er sich nicht mehr. Gegenwärtig waren ihm nur noch das Entsetzen über seinen peinlichen Text, und dann der hustende Leskov, der bruchlos in einen Strudel von Bildern aus dem Tunnel übergegangen war. Ich habe mich unsterblich blamiert. Peinlicher hätte es gar nicht sein können. Aber jetzt ist es überstanden. Ich habe keinen Betrug und keinen Mord begangen. Und ich muß nie mehr vorne in der Veranda sitzen. Nie mehr.
    Zwei Männer mußten ihn hochgetragen haben. Perlmann war froh,

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