Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
»
Perlmann öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und blickte nach Nordwesten. In dieser Richtung war es heller. Vielleicht blieb es dort oben trocken.
«Stört dich der Rauch auch wirklich nicht?»fragte Leskov.
«Überhaupt nicht», antwortete Perlmann in den Regen hinaus und blickte verstohlen auf die Uhr. Fünf nach halb vier.
Er habe die halbe Nacht daran herumgerätselt, fuhr Leskov fort. Und zwischendurch habe er das Gefühl gehabt, seine Erinnerung an das Einstecken des Texts sei vielleicht nur eine Einbildung, in deren Lebhaftigkeit einfach der starke Wunsch zum Ausdruck komme.
«Es ist sehr unangenehm», sagte er,«und nicht nur wegen des Texts. Es gibt mir das Gefühl, mich nicht mehr auf mich selbst verlassen zu können. Kennst du so etwas auch?»
Ja, sagte Perlmann und zündete sich umständlich eine Zigarette an, dieses Gefühl kenne er.
Er habe die Angewohnheit, sagte Leskov nachdenklich, daß er sofort etwas zu lesen beginne, wenn er warten müsse. Und deshalb überlege er nun schon die ganze Zeit, ob er den Text unterwegs etwa herausgenommen und irgendwo liegengelassen habe. Nicht in St. Petersburg, da sei es am Flughafen viel zu hektisch zugegangen. Und auch nicht auf dem Flug nach Moskau, wo ihn ein angetrunkener Kriegsveteran auf dem Nebensitz ständig belästigt habe. Bei Larissa und Boris dann sei er die ganze Zeit über von den Kindern in Beschlag genommen worden. Am Flughafen in Moskau vielleicht. Oder dann im Flugzeug. Oder in Frankfurt, als er auf den Anschlußflug gewartet habe. Es sei verrückt: Weil nicht die Spur einer Erinnerung an eine solche Handlung vorhanden sei, müsse er nun über sich nachdenken wie über einen Fremden, ganz von außen sozusagen. Dabei hoffe er inständig, daß alles, was er da denke, falsch sei. Zwar stehe am Schluß des Texts seine Adresse, das mache er ganz automatisch, selbst bei einem Manuskript. Aber er glaube nicht, daß sich jemand die Mühe machen würde. Am Moskauer Flughafen bestimmt nicht. Und in Frankfurt könne es niemand lesen. Vielleicht werde die Lufthansa etwas unternehmen, wenn der Text im Flugzeug gefunden worden sei. Andererseits: Eine Putzkolonne würde einen Stoß unleserlicher Blätter doch einfach zum übrigen Müll werfen.«Oder was meinst Du?»
«Ich... ich weiß es nicht», sagte Perlmann tonlos.
Leskov machte eine Pause und sah mit leicht verengten Augen vor sich hin. Perlmann wußte, was jetzt kam. Es gebe noch eine Kleinigkeit, fuhr er fort, die er sich kaum zu erwähnen traue, so lächerlich klinge sie: Im Reißverschluß des Außenfachs sei ein Stückchen Gummiband hängengeblieben. Das gehe ihm nicht mehr aus dem Kopf, denn es könne bedeuten, daß er den Text herausgenommen und dabei das Gummiband zerrissen habe, mit dem er zusammengehalten wurde. Er schlug sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn.«Wenn ich nur irgendeine Erinnerung hätte! »Nach einer Weile öffnete er die Augen und sah Perlmann an, der zu Boden blickte.«Entschuldige, daß ich dich damit belästige. In deinem Zustand. Aber du weißt ja, wieviel für mich von diesem Text abhängt. Ich habe schon versucht, zu Hause Freunde anzurufen, damit sie in meiner Wohnung nachsehen. Aber ich bekomme keine Verbindung. »Er legte die Pfeife auf den runden Tisch und verbarg sein Gesicht in den Händen.«Ich hoffe bei Gott, daß er dort liegt. Sonst... ich wage nicht daran zu denken. »
Der Regen hatte aufgehört. Perlmann ging ins Bad und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Waschbecken. Er zitterte, und sein Kopf drohte zu zerspringen. Ich muß die Blätter aufsammeln. Um jeden Preis. Fünf nach vier. Wenn Leskov bald ging, war es noch zu schaffen. Man kann diese Blätter auch in der Dämmerung noch erkennen. Er zog die Spülung. Dann machte er gegen das Zittern die Fäuste und ging zurück ins Zimmer.
Leskov stand. Er müsse jetzt wieder arbeiten, bis zu seiner Sitzung am Donnerstag bleibe ja nicht mehr viel Zeit.
«Wahrscheinlich liegt der Text einfach zu Hause. Anders kann es eigentlich gar nicht sein. Ich müßte doch sonst irgendeine Erinnerung haben. Irgendeine. »
Perlmann hielt seinem fragenden Blick nicht lange stand und ging voraus zur Tür. Bevor er hinausging, blieb Leskov dicht vor ihm stehen. Perlmann roch seinen Tabakatem.
«Meinst du, es ließe sich vielleicht ein Übersetzer für meinen Text finden?»fragte er.«Ich hätte ja doch gern, daß er von dir und anderen gelesen werden könnte. Besonders, nachdem ich jetzt deinen Text kenne.
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