Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
plötzlicher Hast begann er, die zufällig aufgeschlagene Seite der Chronik zu übersetzen. Im Büro würde das fix gehen müssen, das war ein Konzern, da ging es um Geld. Würde sein Italienisch reichen? In dem Text vor ihm gab es mehrere Wörter, die er nicht kannte. Und das Italienisch der Geschäftswelt? Er sah sich bis spät in die Nacht hinein in einer Mansarde sitzen und die Lücken in seinem Wortschatz füllen. Bei diesem neuen Bild verfärbte sich die Hochstimmung und ging in eine Beklemmung über, wie man sie bei einem Rückfall in längst überwunden geglaubtes Erleben empfindet. Aber erst später auf der Straße kam ihm zu Bewußtsein, daß sich in dem Bild der Mansarde die Zeit als Schüler und Student wiederholt hatte, die durch nichts so stark geprägt gewesen war wie durch das Gefühl, daß die Gegenwart noch weit in der Zukunft lag.
Als die Wirtsleute hörten, daß dies sein letzter Besuch war, wollten sie für das Essen kein Geld nehmen. Ihre überschwenglichen Gesten und Beteuerungen standen in krassem Gegensatz zu seiner verkrampften Eile beim Abschied. Sandras Gedanken waren offenbar noch immer bei dem verpatzten Diktat. Trotzdem verstimmte es Perlmann, daß sie ihm nur flüchtig die Hand gab und wieder verschwand. Für einen Augenblick sah er sie mit heruntergeschobenem Kniestrumpf auf dem Bett liegen. Sein ursprünglicher Impuls, ihr die Chronik zu schenken, war auf einmal wie weggeblasen. Er nahm das schwere Buch unter den Arm. Mit der freien Hand teilte er ein letztes Mal den Vorhang. Er ließ die kühlen, glatten Glasperlen langsam über den Handrücken gleiten. Es schien ihm, daß dabei etwas zerbrach, etwas Ungreifbares, Kostbares.
Perlmann legte die Chronik auf das Treppchen vor dem Schreibwarenladen, den ihm der Wirt angegeben hatte. Er formte mit den Händen einen Trichter und starrte angestrengt ins Innere, das noch dunkel war. Aber das war Unsinn, dachte er, so ließ sich das Sortiment an Umschlägen natürlich nicht erkennen. Neben dem Laden befand sich ein Geschäft mit Tischdecken, Servietten und dergleichen im Schaufenster. Während er auf das Ende der Siesta wartete, warf er hin und wieder einen gedankenverlorenen Blick auf die Auslage. Beim dritten- oder viertenmal sprang ihm die Lösung plötzlich ins Auge. Ganz hinten in der Ecke lag, verpackt in eine Plastikhülle mit Reißverschluß, ein Set Taschentücher. Unwillkürlich war seine Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die Verpackung umgesprungen, und jetzt verglich er in Gedanken aufgeregt die Maße der Hülle mit dem Format von Leskovs Text. Die gelben Blätter, so schätzte er, würden beim Transport ein wenig hin und her rutschen. Aber sonst war das tatsächlich die Lösung: Wenn er das Ganze noch in einen wattierten Umschlag steckte, konnte dem Text auch in Schnee und Regen nichts passieren.
Es sei denn, das Wasser dringt durch den Reißverschluß. Perlmann war froh, daß jetzt die Ladenbesitzerin erschien und durch ihre Geschwätzigkeit verhinderte, daß sich dieser quälende Gedanke einnisten konnte. Er kaufte die Taschentücher und nebenan den größten wattierten Umschlag, in den die Plastikhülle bequem hineinpaßte. Für das spätere Schreiben der Adresse suchte er den teuersten Filzstift heraus. An der Ecke dann machte er noch einmal kehrt, um sich eine Plastiktüte geben zu lassen. Es gab Tausende solcher Umschläge. Diesen einen sollte trotzdem niemand zu Gesicht bekommen, wenn er das Hotel betrat.
51
Adrian von Levetzovs Winken war so energisch, daß Perlmann nicht anders konnte, als über die Hotelterrasse zu dem Tisch zu gehen, an dem die anderen alle saßen.
«Wir wetten gerade, wann der erste Tropfen fällt», sagte von Levetzov und zeigte auf die bedrohlich dunkle Wolkenwand, die sich von den Bergen her auftürmte und weit in die Bucht hineinragte.«Wer am nächsten dran ist, bekommt von jedem zehntausend Lire.»Er rückte für Perlmann einen Stuhl zurecht.«Machen Sie mit!»
Zögernd legte Perlmann die Chronik auf den Tisch. Einen anderen Platz dafür gab es nicht. Die Plastiktüte lehnte er gegen das Stuhlbein. Er war froh, daß Leskov weit weg saß. Während er darauf wartete, daß sich der Herzschlag beruhigte, blickte er konzentriert zum Himmel, als überlege er sich seinen Beitrag zur Wette mit größter Sorgfalt.
«Es wird überhaupt nicht regnen», sagte er schließlich, ganz überrascht von sich selbst. Es kam ihm vor, als habe er mit diesem Satz soeben die ganze Welt herausgefordert.
Millar
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