Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
wird er genannt; nach Guglielmo Marconi, einem Pionier der Radiotechnik, wie die Tafel draußen sagt. »
Perlmann, der die Tafel nicht bemerkt hatte, blickte auf seine neuen Schuhe hinunter, die ihm weh taten. Das schmerzhafte Drükken, das für immer mit Konfirmation und harten Kirchenbänken verknüpft bleiben würde, verschmolz mit der heißen Empfindung der Scham über die vergessene Begrüßungsrede und mit einem sich auftürmenden, hilflosen Ärger über von Levetzovs Gebaren als Reiseführer.
«Jetzt fehlt nur noch Vasilij Leskov», sagte Laura Sand, und es kam Perlmann vor, als habe sie seine Gedanken gelesen und versuche mit diesem Themenwechsel zu verhindern, daß die anderen sich erhoben, um die Veranda in Augenschein zu nehmen.«Wann kommt er? Und überhaupt: Wer ist er?»
Er sei ein Sprachpsychologe ohne feste Anstellung an der Universität, sagte Perlmann. Nur hin und wieder ein Lehrauftrag. Womit er sich finanziell über Wasser halte, könne er nicht sagen. Beeindruckend sei, wie gut Leskov beschreiben könne, viel besser als die meisten anderen, die im Fach arbeiteten. Er bringe einem zu Bewußtsein, wie sehr es vor aller Theorie darauf ankomme, unsere Erfahrungen mit Sprache ganz genau zu beschreiben. Zwar betriebe er eine Art altmodischer introspektiver Psychologie, mit der man ja heutzutage keinen Blumentopf mehr gewinnen könne. Aber gerade das habe er, Perlmann, in dem Gespräch damals in St. Petersburg interessant gefunden.
«Sprechen Sie denn auch Russisch?»fragte von Levetzov irritiert. Auf diese Frage war Perlmann nicht gefaßt gewesen, aber er zögerte keinen Moment.
«Nein, nein», sagte er und brachte sogar ein bedauerndes Lächeln zustande,«kein Wort. Er aber kann perfekt Deutsch. Seine Großmutter war eine Deutsche und redete mit ihm nur in ihrer Muttersprache, als er nach dem Tod des Vaters einige Jahre bei ihr wohnte. Sein Englisch sei ziemlich holprig, sagte er mir; aber er wäre hier sicher zurechtgekommen.»
Perlmann hatte keine Ahnung, warum er gelogen hatte, und es war ihm unheimlich, mit welcher Zielsicherheit es geschehen war. Evelyn Mistral, zu der er nur zögernd hinüberblickte, betrachtete ihn mit einem Gesicht, in dem Nachdenklichkeit und Schalkhaftigkeit abwechselten. Jetzt sind wir Komplizen, dachte er und wußte nicht, ob er sich darüber freute oder ob das Gefühl der soeben entstandenen Verwundbarkeit überwog.
«Leider ist ihm die Ausreisegenehmigung verweigert worden», schloß er und griff mit einer Erleichterung, die ihn erstaunte, zu den Zigaretten.
«Jetzt wollen wir doch noch einen Blick in die Veranda werfen», sagte Achim Ruge, als das Gespräch über die Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion versandete und Millar gähnend auf die Uhr sah.
Perlmann ging die drei Stufen als letzter hinauf. Wie wird es sein, wenn ich sie an jenem Tag herunterkomme.
Ruge hatte sich vorn in den Sessel mit der hohen Lehne gesetzt, dessen gestickte Polster an Gobelins erinnerten.«Wenn einer, der hier sitzt, nichts zu sagen hat, ist er selbst schuld», sagte er mit einem glucksenden Lachen und löste damit ein allgemeines Gelächter aus. Perlmann gab vor, die Wappen mit den Zotteln zu betrachten, welche die Wand entlangliefen.
«Was also hast du über Sprache zu sagen, Achim?»hörte er Evelyn Mistral fragen, die eine strenge Lehrerin zu imitieren suchte.«Oder hast du etwa vergessen, die Hausaufgaben zu machen?»
Erneutes Gelächter. Nur Laura Sand lachte nicht mit, sondern untersuchte die alte Truhe in der Ecke. Jetzt überboten sich die anderen mit Karikaturen eines Kreuzverhörs, und Ruge spielte mit wachsendem Genuß den verschlagenen Idioten, der sich hinter einer Fassade von Verschüchterung versteckt. Perlmann schlug das Herz bis zum Hals. Als Silvestri eine trockene Bemerkung machte und dann die Zigarette mit einer blitzartigen Bewegung der Zunge im Mund verschwinden ließ, überschlug sich Evelyn Mistrals helle Stimme vor Lachen. Perlmann wartete nicht mehr ab, was Millar, der gerade Luft holte, sagen würde. Wie betäubt verließ er den Raum, ließ sich von Giovanni den Zimmerschlüssel geben und hastete humpelnd und mit schmerzenden Zehen die Treppe hinauf.
Er legte die Kette vor, zog im Dunkeln die schmerzenden Schuhe aus und ließ sich aufs Bett fallen. Sofort begannen die Sätze im Kopf zu kreisen, Sätze, die beim Abendessen und vorhin in der Veranda gefallen waren, Sätze über den Preis, über Princeton, über faule spanische Professoren,
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