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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Gewitterwolken waren abgezogen. Ein Schimmer von Mondlicht lag über der Bucht. Es war stiller als sonst. Stundenlang hörte er kein einziges Auto. Die fünf Wochen waren vorbei, das Gebirge aus gegenwartsloser Zeit war endlich abgetragen. Sie hatten seine Aufzeichnungen gelesen und seinen Chopin gehört. Jetzt wußten sie, wer er war. Er hatte immer gedacht, daß das auf gar keinen Fall passieren durfte. Daß es einer Vernichtung gleichkäme, wenn andere auf diese Weise in ihn hineinsehen könnten. Es verwirrte ihn, daß die Katastrophe ausblieb. Er wartete. Vielleicht kam sie mit Verzögerung, dann aber um so heftiger. Aber sie setzte einfach nicht ein. Ganz allmählich begann er zu ahnen, daß er jahrzehntelang mit einem Irrtum gelebt hatte. Es war gar nicht wahr, daß Abgrenzung hieß, sich abzuschirmen und einzumauern wie in einer inneren Festung. Worauf es ankam, war etwas ganz anderes: daß man, wenn die anderen es erfuhren, furchtlos und ruhig zu dem stand, was man im Innersten war. Und es kam Perlmann vor, als sei diese Einsicht auch der Schlüssel zur ersehnten Gegenwart, die stets so ungreifbar und flüchtig geblieben war wie eine Luftspiegelung.
    Hin und wieder döste er ein.... not a trace of plagiarism, hörte er Millar sagen. Als Erwiderung schleuderte er ihm lauter unbekannte englische Wörter entgegen, bis er endlich merkte, daß es immer ein und dasselbe Wort war: spisyvat’. Es kommt alles raus! lachte Leskov, und in seinem Mund war nur noch ein einziger Zahnstummel, denn er war die Alte beim Tunnel. Wie im Film! sagte sie. «Wer’s glaubt!» Und dann warf sie den anderen, die sich vor Lachen bogen, die Chronik zu.
    Einmal machte Perlmann Licht und sah im Handkoffer nach, ob der Umschlag mit Leskovs Text noch drin war.
    Der Mond war verschwunden. Eine Nebelbank verwischte die stillen Lichter von Sestri Levante. Zum Glück hatte er der Versuchung widerstanden, das Nocturne in Des-Dur zu spielen. Warum in aller Welt er denn dieses Stück nicht spielen wolle, hatte Szabo gefragt. Deshalb, hatte Perlmann geantwortet und auf die Tasten gestarrt. Jetzt hörte er es, Takt für Takt. Ihr goldenes Haar mit der dunklen Strähne.

54
     
    Als die beiden Taxifahrer die Halle betraten, ging plötzlich alles so schnell, daß Perlmann, der doch die Stunden gezählt hatte, sich ganz unvorbereitet vorkam.
    «Und machen Sie sich nichts draus», sagte Ruge, nachdem er sich für alles bedankt hatte.«Es gibt Schlimmeres! »
    Perlmann spürte, wie der Satz eine Wunde riß. Die Worte setzten voraus, daß etwas geschehen war, was einer sich übelnehmen konnte: ein Versagen, eine Blamage, eine Verfehlung gar. Dabei hatte er lediglich einmal eine schwächere Vorstellung gegeben als sonst. Ein einziges Mal in seiner glänzenden Karriere. Begleitet von einem Ohnmachtsanfall, gewiß. Aber wer kann schon etwas für seinen Körper. Sonst war, aus der Sicht der anderen, gar nichts gewesen. Warum also dieser Satz, der schnitt und brannte und durch den entsetzlich biederen, schwäbischen Tonfall noch unerträglicher wurde? Woraus, schrie er Ruge unhörbar nach, woraus soll ich mir nichts machen? Von Levetzov gab ihm schon die Hand und sagte etwas über eine Tagung, wo man sich ja sicher sehen werde, da rang Perlmann immer noch mit Ruges Worten. War es die Ohnmacht, worauf er anspielte? Oder die Aufzeichnungen? Oder der Kitschtext? Warum hatte er das sagen müssen? Und warum gerade in diesem Moment, der dem Gemeinten, was immer es sei, ein besonderes Gewicht verlieh? Er versuchte, sich Ruges Gesicht und seinen Ton in Erinnerung zu rufen, als er vom Tod der Schwester gesprochen hatte. Aber je angestrengter er diese Dinge zurückzurufen versuchte, desto mehr entzogen sie sich. Hatte es sie wirklich gegeben?
    Laura Sand wußte nicht wohin mit der Zigarette und klemmte sie schließlich zwischen die Finger, welche die Reisetasche hielten.«Ich schicke Ihnen ein paar Bilder», sagte sie und klopfte auf die Fototasche.«Solche, die auch Chopin gefallen hätten», fügte sie mit ihrem spöttischen Lächeln hinzu. Auf der Schwelle stolperte sie über ihren langen schwarzen Mantel. Perlmann schloß einen Moment die Augen, um sich zu versichern, daß ihm das innere Bild ihres spöttischen Gesichts jederzeit zur Verfügung stehen würde.
    Was jetzt kam, hatte er sich in der Nacht mehrmals vorzustellen versucht, doch die Phantasie war nicht vom Fleck gekommen.
    «Thanks for everything«, sagte Millar und drückte ihm fest die Hand. Er sagte

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