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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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damit ergeht. Wenn du mich fragst: Wirklich fertig werden kann man mit einem Trauma dieser Art nicht. Es ist ja nicht so, daß ihm einfach etwas Schreckliches zustieß, für das er nichts konnte. So wie mir die Haft. Er läßt den Gürtel los, das heißt, er tut etwas, vollzieht eine Handlung. Und zudem gibt es diesen Haß in ihm. Ob da etwas möglich ist, was eine echte Versöhnung mit sich selbst wäre, und nicht nur eine krampfhafte Selbstbeschwichtigung: Ich bezweifle es. Die roten Hände werden ihn nie mehr losgelassen haben. Oder was denkst du?»
    Perlmann brachte kein Wort heraus und zuckte nur mit den Schultern. Leskov machte einen Schritt auf ihn zu und schloß ihn in die Arme. Steif wie eine Kleiderpuppe ließ es Perlmann über sich ergehen.
    «Wegen des Texts schreibe ich dir sofort! »rief Leskov, während der Beamte in seinem Paß blätterte.«Und natürlich schicke ich dir eine Kopie, sobald er abgetippt ist! »
    Unfähig zu einer Reaktion sah Perlmann zu, wie Leskov mit dem Paß winkte, bevor er verschwand. Mit vollständig leerem Kopf blieb er auf demselben Fleck stehen. Minutenlang nahm er nichts von dem Betrieb um sich herum wahr. Erst als ein rennendes Kind an seinen Koffer stieß, kam er wieder richtig zu Bewußtsein. Vorbei. Immer von neuem sagte er sich das Wort vor, zunächst nur innerlich, dann halblaut. Es hatte keine Wirkung. Die ersehnte Erleichterung blieb aus. Er machte ein paar schleppende Schritte und lehnte sich an eine Säule. Fünfzehn Stunden, dann begannen für Leskov Tage der Verzweiflung, der ohnmächtigen Wut über sich selbst und der immer schwächer werdenden Hoffnung auf eine Sendung der Lufthansa. Unwillkürlich zog Perlmann den Kopf ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Die roten Hände werden ihn nie mehr losgelassen haben.
    An der Warteliste für den Nachmittagsflug von Frankfurt nach Turin hatte sich nichts geändert. Immer noch war der eine Mann vor ihm. Perlmann ging hinüber in die Bar. Doch noch bevor der Kaffee vor ihm stand, legte er einen Schein auf die Theke und ging zur Aussichtsterrasse hinauf. Das Gepäck setzte er möglichst weit von der Stelle ab, wo er, vor langer Zeit, den Handkoffer zurückgelassen hätte, wäre da nicht das Mädchen in den Turnschuhen gewesen. Die Piloten saßen schon im Cockpit, und jetzt verließen zwei Putzfrauen mit großen Müllsäcken das Flugzeug. Weißt du, was ich am meisten fürchte? Die Putzkolonne.
    Leskov verließ als einer der ersten den Bus, der in einer großen Schleife zur Maschine hinausgefahren war. Mit seinen schweren Schritten ging er die Gangway hinauf, und einmal sah es so aus, als sei er auf einen Zipfel seines Lodenmantels getreten. Oben angekommen schien er sich umdrehen zu wollen, wurde aber von den anderen hineingedrängt.
    Perlmann wollte gehen. Er blieb stehen. Hinter welchem Fenster mochte Leskov sitzen? Die Maschine rollte mit einer quälenden Langsamkeit zum Start, in der sich die Zeit bis zum Zerreißen zu dehnen schien. Nachdem sie gewendet hatte, stand sie, als sei sie nie mehr zu bewegen, still im bleichen Morgenlicht, das durch einen feinen Wolkenschleier sickerte. Auch sonst bewegte sich auf dem leeren Rollfeld nichts. Perlmann hielt den Atem an und spürte das Blut pochen. Es kam ihm vor, als sei diese Stille und Reglosigkeit ganz allein für ihn inszeniert worden, ohne daß er hätte sagen können, warum und mit welcher Botschaft. Minutenlang schien ihm die ganze Welt in einem unverständlichen Warten erstarrt. Erst das Aufheulen der Triebwerke setzte die Zeit wieder in Gang. Ohne zu wissen warum, gefangen in blinder Anspannung, konzentrierte er sich auf den genauen Augenblick, in dem die Reifen die Berührung mit der Piste verloren. Als die Maschine dann in einer trägen Schleife aufs offene Meer hinausflog, stellte er sich die Aussicht vor, die Leskov jetzt hatte. So habe ich mir die Riviera vorgestellt, genau so, hörte er ihn sagen. Nach dem Gepäck bückte er sich erst, als der Wolkenschleier auch noch das letzte Glitzern der Tragflächen verschluckt hatte.
    Er gab den Koffer auf und holte die Bordkarte für den Flug um elf nach Frankfurt. Er würde, dachte er in der Bar, im Frankfurter Flughafen fünf lange Stunden auf den Flug nach Turin warten müssen, nicht wissend, ob es mit einem Platz klappte. Wenn nicht, konnte er immer noch mit dem Auto nach Ivrea fahren. Bis morgen um zehn war das zu schaffen. Zwar hieße es, daß er nicht vor Mittwoch in der Universität wäre. Aber mit der

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