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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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herumgeisterte, der ihm auf der Fahrt gegenübergesessen und ihn bei jeder Zigarette mißbilligend angesehen hatte.
    Es war halb zwölf, als er mit steifen Gliedern aufwachte. Halb neun war es gewesen, als Leskov von den fünfzehn Stunden gesprochen hatte. Also betrat er jetzt, wo es bei ihm halb zwei sein mußte, die Wohnung in St. Petersburg. Er stürzte zum Schreibtisch und wühlte in der Unordnung: nichts. Er suchte an allen möglichen und unmöglichen Orten, immer noch im Lodenmantel. Schließlich gab er auf, wurde still und starrte vor sich hin. Allmählich dann würde sich die Hoffnung regen, daß der Text mit der Post käme, vielleicht schon morgen, sicher aber am Dienstag. Spätestens am Mittwoch. Er würde jeden Morgen zur Postzeit ins Institut gehen, um die Sendung persönlich in Empfang zu nehmen. Und jeden Morgen würde er die gleiche Enttäuschung erleben.
    Perlmann ging hinunter zum Empfang und bat den brummigen Nachtportier, ihm den Umschlag mit Leskovs Text zu holen. Er tat ihn neben das Kopfkissen, als er nachher ins Bett kroch und zusätzlich den Mantel auf die Decken legte.
    Jetzt würde Kirsten in Frankfurt anrufen, um zu fragen, ob er gut nach Hause gekommen sei. Er war froh, nicht mit ihr reden zu müssen. Er dachte an Giovanni, der vor dem Fernseher saß. Und an Signora Morelli. Er wußte nicht einmal, in welcher Straße sie wohnte. Er sah sich noch einmal mit Evelyn Mistral im Zugabteil stehen und spürte ihre Hände im Nacken. Sie hatte keinen einzigen Satz über seine Aufzeichnungen gesagt. Vielleicht war das der Grund, warum die Gedanken nicht länger bei ihr blieben. Statt dessen sah er nun immer wieder Brian Millar, wie er sich, bevor er ins Taxi stieg, noch einmal zu ihm umgedreht und die Hand gehoben hatte. Das hat noch niemand zu mir gesagt. Wir hätten schon früher... Perlmann vergrub den Kopf im Kissen.
     
    Auch das Morgenlicht war hier ganz anders als am Meer, härter und nichtssagender, ohne Zauber und Versprechen. Perlmann duschte lange und putzte die Zähne mit dem nassen Zipfel des Handtuchs. Die Bartstoppeln erinnerten ihn an den Morgen der Ohnmacht. Bevor er zum Frühstück ging, vergewisserte er sich, daß Leskovs Text noch im Umschlag war.
    Als er nachher mit dem Hörer in der Hand auf der Bettkante saß, wollte ihm die Nummer von Frau Hartwigs Büro nicht einfallen. Eine sonderbare Schwäche wie bei aufkommendem Fieber hinderte ihn daran, sich zu besinnen. Schließlich war es das motorische Gedächtnis beim Wählen, das half.
    «Da ist diese wichtige Sitzung, heute um vier», sagte Frau Hartwig.«Ich wollte es nur noch einmal erwähnt haben. »
    Es war, als ob sich die Gereiztheit am Ende ihres letzten Gesprächs direkt fortsetzte – eine Gereiztheit, wie es sie in den sieben Jahren zuvor nie gegeben hatte.
    Perlmann hielt den Hörer von sich weg und atmete mit konzentrierter Langsamkeit aus.«Wie gesagt», erwiderte er dann ruhig,«ich bin morgen vormittag im Büro. So gegen zehn wahrscheinlich. Und die Anschläge machen Sie wie besprochen. »
     
    Leskovs Text gab er am Empfang wieder zur Aufbewahrung. Ja, während der Nacht habe er ihn gebraucht, antwortete er auf die verwunderte Frage. Draußen begannen sich die Straßen mit Berufsverkehr zu füllen. In Zukunft würde auch er morgens im Strom der anderen zur Arbeit gehen. Oder in einem überfüllten Bus stehen und die Zeitung lesen. Mittags in einer Bar ein belegtes Brötchen, danach einen Kaffee. In der Bar würde er täglich dieselben Leute sehen, und es würden diese wunderbar leichten, schwebenden Bekanntschaften entstehen. Abends nach Hause in eine einfache, wahrscheinlich laute Wohnung. Es würde dauern, bis er sich an den Krach, an das Kindergeschrei im hellhörigen Haus gewöhnt hatte. Dafür aber war er frei und konnte sich wie die anderen abends ins Fenster lehnen oder vor den Fernseher setzen. Bücher – damit würde er sich Zeit lassen. Und dann nur italienische Bücher, Belletristik. Nach einiger Zeit würde er sich vielleicht mit dem Übersetzen an einen Roman trauen. Wenn er nach Feierabend nicht zu müde war. Denn er war ja jetzt, zum erstenmal im Leben, ein Mensch, der einen Feierabend hatte. Ein Mensch mit einem richtigen Beruf. Mit einer ehrlichen Arbeit. Ein Mensch, der eine Gegenwart hatte.
    Vor einem Geschäft mit Toilettenartikeln blieb er stehen und wartete darauf, daß es um neun öffnete. Kirsten. Er stellte sich vor, wie sie seine noch schlecht eingerichtete Wohnung betrat, nachdem sie

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